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Die toten Gedanken

Ein satirischer Brief.

Lieber Freund, es webt ein eigenartiger Zauber um einen Friedhof, insbesondere, wenn er in ruhiges, silbernes Mondlicht getaucht ist, und ganz und gar feierlich wird mir zumute, wenn ich an einen kleinen Kirchhof denke, wie wir ihn in unsern weiten Nordseemarschen haben. Da ruhen die Toten in die hohe Wurt gebettet, worauf sich die altersgraue Sand- oder Tuffsteinkirche erhebt, ruhen in Grabgewölben, die von ungeheuren Steinplatten bedeckt sind, deren Inschriften bis auf die Zeit der Reformation zurückgehen. Aber es sind auch einfache Gräber da; die hölzernen Kreuze, die daraufstehen, sind ganz verwittert, und die eisernen bis auf den Grund verrostet. Hier wurden die Geschlechter einer ganzen Gemeinde von Urahne bis auf späte Enkel versammelt und schlafen alle denselben unweckbaren ewigen Todesschlaf. Wenn dann in stiller Nacht ein leiser Wind von der Küste kommt und ringsum mit den Blättern der Eschen und Weiden spielt, dann erzittert unsere Seele unter allen Schauern der Sagen- und Märchenwelt.

Aber es gibt einen Friedhof, der ist noch stiller, noch feierlicher; denn alle Geheimnisse des Werdens und Vergehens spielen hinein. Er liegt irgendwo und ist doch allenthalben; nur die dünne Tür scheidet uns davon, die zwischen uns und der Vergangenheit ist, und alle Augenblicke bringen wir unsere Toten hinaus, Tote, die wir nicht beweinen und denen wir kein Denkmal setzen; denn ihre Hand hat uns bedrückt, und sie machten uns das Leben schwer und enge.

Wir wollen hinaufgehen auf diesen Kirchhof. Kommen Sie in der dunklen Nacht, wenn die Eule schauerlich ruft und die alten Götter verwundert erwachen. Aber es ist gut, wenn wir die plumpen Alltagsschuhe ausziehen; denn wir müssen leise dahinschreiten, daß uns kein Staatsanwalt hört. Dann nimmt uns ein Genius an der Hand, halb Engel Gabriel, halb Mephistopheles, und schweigend führt er uns durch düstere Tore, die sich lautlos öffnen und schließen.

Der Genius trägt keine Fackel; er leitet uns mit seinen Händen. Auch ist kein Fetzen vom lieben Mond zu sehen, selbst die Sterne schimmern seltsam trüb; aber von Nordwesten her steigt zuckend in purpurnen Schwaden ein Nordlicht am Himmel empor, und kommt es durch seinen magischen Widerschein oder durch die geheimnisvolle Berührung des Genius: wir sehen klar und deutlich wie der Uhu, wenn er auf Raub ausfliegt. Wir sehen Gräber in den seltsamsten Formen, wunderlich gestaltete Denkmäler, wir sehen Stein auf Stein getürmt, doch nirgends ein freundliches Grün, nirgends blühende Blumen. Dieser Friedhof ist nichts als eine schauerliche Begräbnisstätte; keine Sonne vermag neues Leben daraus zu erwecken. Wir schreiten dahin wie durch ein Tal, das durch einen Felssturz verwüstet worden ist.

»Was ruht unter diesen Steinen?« fragen wir, »Schädel und Totengebein?«

»Nicht Schädel und Totengebein,« antwortet der Genius, »hier modern die toten Gedanken.«

»Die totgeborenen Gedanken?« werfen wir ein.

Der Genius lächelt: »O nein, die werden gleich an Wegesrand in den Graben geworfen, und niemand kümmert sich um sie. Die toten Gedanken, die hier ruhen, haben wirklich gelebt, manche sind sogar sehr alt geworden, Jahrhunderte, Jahrtausende alt, haben Menschen erquickt und erhoben, aber noch öfters sehr unglücklich gemacht; denn fast immer übten sie eine unerträglich tyrannische Gewalt aus. Oft waren diese Gedanken oder Gedankensysteme in ihrer Jugend schön wie Engel; wurden sie aber alt, so entarteten sie zu mißgestalteten Teufeln. Immerhin sind sie die gewaltigsten Gebilde, die der Menschengeist hervorgebracht hat, und dieser Friedhof ist nichts als ein Denkmal ihres Daseins und ihrer weitreichenden Wirkung. Lest die Inschriften; hier sind wir gerade im bedeutsamsten Viertel, hier ruhen die toten Religionen.«

Und wir sehen ragende Denkmäler und lesen halbverwitterte Inschriften. Vor einem griechischen Grabtempel stehen die Worte: »Hier begrub man Zeus und die olympischen Götter.« Die Olympier – eine Welt voll Schönheit steigt vor unsern Augen auf. Ein massiver Hünenstein trägt die Runen: »Dem Andenken Wodans und der Asen geweiht!« – und unsere Seele weitet sich in Erinnerung an die tiefen Naturmythen der germanischen Völker. So schlendern wir weiter und sehen, wie lange schon der Glaube der Ägypter und Syrer, der Babylonier und Perser in die Gruft versenkt worden ist.

»Und wo schläft die christliche Religion?« fragte ich unsern Führer.

Siehe, da schießen seine Augen Blitze. »Vermessener«, sagt er, »dieser Glaube ist noch nicht einmal zweitausend Jahre alt. So alt können Riesen des Urwalds werden, ehe sie vermodern; Religionen werden älter.«

»Verzeih,« wagte ich mich zu entschuldigen, »manchmal dünkt es mich, als sei das Christentum wirklich schon gestorben.«

»Du irrst,« antwortet der Genius, »es hält dann und wann vielleicht einmal ein Nachmittagsschläfchen, doch ist es vor dem Vesperbrot noch immer wieder aufgewacht.«

»Und wird einmal die Stunde kommen, wo es wirklich stirbt?«

»Ich weiß es nicht,« sagt jener, »aber das weiß ich, daß die Nacht kommt, wo alle Sonnen frieren.«

Wir hören es, und unser Herz ist seltsam bewegt bei dem Gedanken, daß auch Religionen geboren werden und sterben wie alles, was auf Erden wandelt. Wie viele werden noch erblassen, wenn Gott vor den Blicken wißbegieriger Forscher immer weiter zurückweicht ins Unfaßbare, ins Dunkel, wo der Ursprung des Gewaltigen, Erhabenen und Schönen ist. Wird jenes Dunkel wieder einen neuen Glauben gebären? Es stehen ihrer viele am Wege, die daraus warten; es gibt viele Herzen, die jetzt nach Glauben lechzen und doch nicht glauben können.

»Geht weg aus dem Bannkreis toter Religionen,« sagt unser Führer; »es ist nicht gut, hier länger zu atmen. Der Dunstkreis ist von Blut geschwängert, vom Blut hingemordeter Opfer, und die Qualen zuckender Herzen lösen noch immer tausendfache Seufzer aus. Gehen wir in das Gebiet der toten philosophischen Systeme.«

Ein ungeheurer Schrecken überfällt uns; vorsichtig setzen wir unsere Füße. Hier könnten Schlingen und Fußangeln verborgen sein, die noch gefährlich sind, selbst wenn sie schon verrostet wären. Fester fassen wir die Hand unseres Führers.

»Hier ruht der Scholastizismus,« sagt er und deutet auf ein Grab, so groß, als stäke ein Papst oder ein ägyptischer Pharao darin.

»Nein, ist der wirklich schon tot?« fragen wir. »Gibt es auch eine Auferstehung der Ismen?«

Der Genius zuckt die Achseln und meint: »Man kann immer nicht wissen; es soll wirklich Beispiele davon gegeben haben.«

Wir schleichen auf den spitzesten Zehen, um an all den toten Ismen vorbeizukommen. Es ist eine unheimliche Gesellschaft; ihre Gräber sind mit grinsenden Menschenschädeln eingefaßt, deren Inhaber einstmals alle an Kopfschmerzen dahingegangen sind – entweder endeten sie im Irrenhaus oder in einem dreibändigen Lehrbuch der Philosophie. Wir atmen ordentlich auf, als wir an dem letzten großen Doppelgrabe ankommen. Es ist ganz frisch, und rechts trägt es die Inschrift: »Hier fault der Materialismus, er starb an überfülltem Magen; links steht: »Hier ward die geistige Grundlage der Sozialdemokratie bestattet; Friede ihrer Asche.«

Der Genius will uns nun auch noch zeigen, wo die andern toten Wissenschaften begraben sind, wir aber wehren ab und sagen: »Es ist so unendlich traurig, dort zu wandeln, wo die toten Gedanken modern. Wir sind erschöpft, laß uns nach Hause gehen.«

»O, seid ihr müde?« fragt der Genius; »das macht nichts. Ihr sollt euch schon bald erholen; denn wir haben hier auch noch eine humoristische Ecke.«

Flugs fühlen wir uns erhoben und fortgeführt und blicken nun über ein weites, weites Leichenfeld, übersät mit kleinen Kreuzen und Steinen. Unser Führer streckt seine Hand aus und lacht.

»Entsetzlich! Genius, du lachst?« schreien wir auf.

»Das sind ja Kindergräber.«

»Allerdings sind es Kindergräber,« erwidert er gelassen, aber es ist dennoch zum Lachen; denn hier ruhen die toten pädagogischen Methoden, jene unglaublichen Systeme von Handgriffen, die die Schulmeister ersonnen haben, um das Gedächtnis noch löcheriger zu machen, als es schon ist, um gelenkige Geister zu verrenken und gesunde Charaktere zu verbilden.«

»Die toten pädagogischen Methoden?« – Wir fühlen uns ordentlich erleichtert und stimmen vergnügt in das Gelächter ein.

»Ja, die toten pädagogischen Methoden,« sagt der Genius noch einmal, »alle aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Früher wurden sie noch etwas älter, heute sterben aber die meisten, bevor sie die Zähne gewechselt haben. Viele sind überhaupt nie lebendig gewesen; sie waren nichts als possierliche, hölzerne Steckenpferde. Trotzdem alle diese Methoden nie recht groß werden, ist keine unter ihnen, die sich nicht ebenso unfehlbar dünkte, wie der Papst in Rom. Jede haßt ihre Nebenbuhlerin und gleicht darin den Konfessionen, daß man nur selig werden kann, wenn man nach ihrer Vorschrift glaubt und handelt. Dieser Haß kann so groß werden, daß eine Methode die andere verschlingt, wird aber selber nichts klüger davon. Die Sieger sterben zuletzt an eigener Langeweile und werden auch darin begraben. Bevor sie aber endgiltig tot sind, reiten sie die Ideen großer Pädagogen zuschanden, stolpern über die Leichen von Hunderttausenden hinweg und verknöchern ganze Geschlechter.«

So redet der Genius, und dabei setzt er sich auf das Grab der mechanischen Paukmethode.

»Diese ward die Älteste ihres Geschlechts,« fährt er fort, »manche behaupten sogar, das Grab sei leer, sie selbst aber schalte unter mancherlei Verkappung lustig weiter. Ich möchte es beinahe wünschen; denn sie ist eine sparsame Methode. Sie schont die geistigen Kräfte von Lehrern und Schülern und bequemt sich der Natur der Menschen am besten an, darum ist sie sogar die natürlichste Methode. Es ist aber Mode geworden, sie zu verleugnen, und wie der Sisyphos um seinen Stein, so müht man sich ab, die allein richtige Methode zu Berge zu bringen. Sie wird aber nie dahin kommen, denn es ist unmöglich, daß die Pädagogen sich darüber einigen, ob man von vorn oder von hinten, von oben oder von unten, von außen oder von innen anfangen muß. Auch ist man sich nicht ganz klar darüber, ob die Pädagogik eigentlich eine Wissenschaft oder eine Kunst ist, vor allen Dingen aber weiß man noch nicht, was größer und heiliger sei, das Kind oder die Methode. Was meint ihr denn dazu?«

Wir antworteten andächtig und bescheiden: »Es gibt nichts, was größer und heiliger wäre, als die Methode.«

»Ja,« bekräftigt es der Genius, und es zuckt um seine Mundwinkel, »aber wenn wir nur die richtige hätten! Ich kenne nur eins, was für die Erziehung in Vergangenheit und Gegenwart unvergänglich ist und auch Unvergängliches geschaffen hat.«

»Das ist der Stock!« rufen wir beide begeistert aus.

»Nein,« sagt der Genius und richtet sich empor, »es ist die Persönlichkeit

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