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Der Käfig

Als Christus von der Erde scheiden wollte, rief er Petrus zu sich und sprach: »Herzlieber Jünger, ich muß nun Abschied nehmen und möchte dir gern etwas schenken. Nun weißt du aber, ich hab' weder Haus noch Hof, weder Gut noch Geld, nichts, als dieses arme Vöglein ist mein. Das lag gestern am Weg mit wundem Flügel; da hob ich's auf und hab' es getränkt und in den Falten meines Mantels aufbewahrt. Nun ist's wieder gesund geworden und hat gar schön gesungen. Das geb' ich dir zu eigen, lieber Jünger. Brauchst es gar nicht zu füttern, aber lieb haben mußt du es; dann wird es dir anhangen und nimmer von dir weichen, wird dich auch durch manches süße Lied erfreuen. Einstmals aber werd' ich wiederkommen, und wenn du mir dann dies Vöglein zeigen kannst, so will ich daraus ersehen, daß du mein getreuer Jünger warst.«

Als der Herr nun gen Himmel gefahren war, hütete Petrus das Vöglein, und es ging mit ihm, und wenn er verfolgt ward und im Kerker saß, so sang es ihm seine lieblichen Lieder vor. Und Petrus harrte des Herrn; aber der kam nicht wieder, und als er sterben mußte, gab er das Vöglein seinem ältesten Jünger, und es zeigte sich, daß es unsterblich war.

Geschlechter kamen und vergingen. Sie warteten alle des Herrn; aber der kam noch immer nicht. Nun war einmal einer, der das Vermächtnis des Heilands hüten sollte, dem wohnte Furcht in der Seele, und er sprach so zu der Gemeine: »Wie leicht kann uns das Vöglein entfliegen, und der Habicht frißt es, oder auch die Katze! Dann hätten wir es nimmer, wenn der Herr es von uns fordert. Darum laßt uns einen Käfig bauen, der soll aus dem feinsten Silber sein, und darin soll das Tierlein wohnen, auf daß es uns nicht entfliehe.«

Und es geschah, wie der weise Mann geraten hatte; aber seit jener Zeit sang das Vöglein nicht mehr so schön. So vergingen hundert Jahre, da dünkte es einen andern Hüter, die Stäbe des Gitters seien zu weit voneinander und leicht könnte es entschlüpfen, auch möchte ein geschmeidiges Wiesel einbrechen und ihm ein Leids antun. Da ließ er von innen ein Netz machen, das war aus feinen goldenen Drähten. Von jenem Tage an sang das Vöglein gar nicht mehr, und wollten die Menschen es sehen, so flimmerte es ihnen vor den Augen, und sie sagten: »Wie schön ist das Vöglein! Es hat ein goldenes Gefieder.« Sie wußten aber nicht, daß sie nur das Gitter gesehen hatten. Und zuletzt vergaß man des gefangenen Tierleins ganz und gar.

Da kam eines Tages der Herr auf Erden zurück, und er ging zu seinem Haushalter und sprach: »Wo ist mein Vöglein?«

»Dein Vöglein?« fragte der Haushalter ganz verwundert, »davon weiß ich nichts. Ich habe nur dein Heiligtum zu hüten, das ist ein silberner Käfig mit feinmaschigem Goldnetz von innen. Den hab' ich in ein festes, diebssicheres Gewölbe gestellt. Komm und siehe.«

Und der Haushalter nahm einen großen Schlüssel, damit öffnete er eine eiserne Tür und führte den Herrn in ein dunkles Gewölbe; aber es ward licht von dem Glanz, der von den Augen des Heilands ausging. Dann zeigte der Haushalter den herrlichen Käfig, und er kniete nieder vor ihm auf die Erde, und sein Herz war voller Ehrfurcht.

Nun tat der Heiland den Käfig auf, und seine Hand zitterte ein wenig dabei. Er blickte hinein, da sah er sein herzliebes Vöglein; aber es regte und rührte sich nicht mehr.

»Es ist tot,« sagte er leise zu dem Haushalter.

Da stammelte der Haushalter und sagte: »Herr, wenn das Vöglein auch gestorben ist, wir haben doch noch den Käfig!«

»Ja,« erwiderte Christus und lächelte bitter, »den Käfig werdet ihr behalten.«

*


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