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Das Vergessen

Als Gott der Herr die Erde geschaffen hatte, ging er einmal spazieren. Ihm begegnete der Mensch, und er fragte ihn: »Wie gefällt dir die Welt?«

»Gar nicht,« erwiderte der Mensch.

Da ward der Herrgott zornig und sagte: »Eine solche Antwort wagst du mir zu geben? Und gerade dich habe ich bevorzugt vor anderen Geschöpfen! Ich habe dir das Licht der Vernunft gegeben, damit du alles erkennen und begreifen könntest, und nun willst du so undankbar sein?«

»Für dies Licht kann ich dir wirklich nicht danken,« erwiderte der Mensch, denn gerade dadurch wird mir klar, daß die Welt voll von Not und Elend ist. Ein Tier zerreißt das andere, und ich bin nicht sicher vor meinesgleichen. Es ist furchtbar, daß ich das Tag und Nacht vor Augen haben muß. Der du mir das Leben gabst, hilf mir, daß ich es wieder vergessen kann!«

Da strich ihm der gütige Gott über die Augen, und so bekam der Mensch den Schlaf.

Als einige Zeit vergangen war, begegnete der Herrgott ihm wieder und fragte, ob er nun zufrieden sei.

Der Mensch antwortete: »Ich danke dir, daß ich jetzt wenigstens in der Nacht das Leben vergessen kann; aber den langen Tag hindurch peinigt es mich mit unverminderter Qual. Gib mir auch etwas, was mich den Tag vergessen macht.«

Wiederum gewährte der Herr die Bitte, und er gab ihm für den Tag die Arbeit, und nun mußte der Mensch sich mühen um sein tägliches Brot, so daß er keine Zeit hatte, an all die Not des Lebens zu denken.

Und zum dritten Male begegnete der Herrgott dem Menschen und sagte: »Ich denke, nun wirst du endlich zufrieden sein; denn Schlaf und Arbeit füllen dein ganzes Leben aus.«

»Nicht das ganze,« sagte der Mensch. Manchmal kann ich nicht schlafen, und in der Arbeit gibt es Pausen; dann legt sich mir das Elend des Daseins schwer auf die Seele. Für diese Pausen gib mir etwas, was mich der Erde entrückt, daß ich mich in deinem Himmel fühle.«

Gottes Güte ist unendlich. Er sagte: »Vergiß das Leben, indem du dich über das Leben erhebst!«

Und er gab ihm die Kunst

*


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