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Der Spiegel der Wahrheit

Einem König war in seinem Leben viel mißglückt; deshalb ward er zuletzt verdrossen und sagte zu sich selber: »Mir behagt es nicht mehr auf dem Thron; mein Sohn mag darauf sitzen. Ich will mich in der Einsamkeit verbergen und niemand mehr bei mir sehen, als meinen treuesten Diener. O, wer hilft mir, daß ich ihn herausfinde aus der Schar der vielen, die all ihre Tugend haben in ihren Worten und Blicken!«

»Ich will dir helfen,« sprach eine klare Stimme, und vor ihm stand ein Genius mit ernsten Zügen.

»Wer bist du?« fragte der König.

»Das wirst du erfahren,« antwortete der Genius. »Ich will dir einen Spiegel an die Wand hängen, die deinem Throne gegenüberliegt. Wenn deine Diener daran vorüberziehen, wird aller Schein von ihnen abfallen, und du wirst nur einen solchen wählen, der seine Gestalt nicht geändert hat.«

Da freute sich der König, und als der Spiegel an seinem Platze hing, ließ er alle vor sich kommen, denen er ein Amt gegeben hatte, und fragte, wer ihm Treue bezeigen wolle bis an seinen Tod. Und siehe, alle Hände reckten sich empor, und es schien eine schwere Wahl zu sein. Nun mußten sie einzeln am Thron vorübergehen; aber der König sah ihnen nicht ins Antlitz, sondern er blickte über sie hinweg nach der Wand, wo der Spiegel hing, und darin erschienen seine Diener in einer Gestalt, wie er sie noch nicht gesehen hatte. Zuerst kam der Kanzler, und der ward zum Kamel; der oberste General war ein Rhinozeros, der Schatzmeister ein Hamster, der Hofmarschall ein Affe, der Hofprediger ein Chamäleon, der Poeta laureatus ein Papagei und der Sekretär ein Faultier. So ging es weiter in endloser Folge, und das Herz des Königs ward schwer und immer schwerer. Zuletzt kam sein Kammerdiener, und nun schoß ein Strahl der Hoffnung durch sein Gemüt; aber der Mann, den er für echt gehalten und dem er mehr vertraut hatte als seinem Minister und seinem Hofmarschall, dieser Mann ward zum Fuchs.

Nun waren alle hinausgegangen, und der König befand sich allein. Er stützte sein Kinn mit der linken Hand, und ein paar Tropfen rannen hinab in den greisen Bart. Allein! Da fühlte er plötzlich, wie etwas seine Rechte berührte, die schlaff herunterhing, und das war niemand anders als sein alter Pudel. Der leckte ihm die Hand, und als der König nun in den Spiegel blickte, bemerkte er, daß der Hund seine Gestalt nicht verändert hatte. Er erhob sich und stieg langsam herab von seinem Thron. Da stand der Genius wieder vor seinen Augen und fragte: »Bist du nun zufrieden?«

»Dein Spiegel war grausam, aber er ist gut,« sagte der König. »Ich bitte dich, laß ihn meinem Sohn; es wird ihm dienlich sein, wenn er immer die Wahrheit erfährt.«

»Das ist nicht möglich,« erwiderte der Genius. »Ein König erfährt erst dann die Wahrheit, wenn er den Purpur auszieht und Amt und Würden von sich tut.«

Da gab sich der König zufrieden, und er ging mit seinem Hunde in die Einsamkeit.

*


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