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Der Stärkste der Engel

Ein Mann lag krank und zerschlagen auf seinem Bette; er hatte den Kampf des Lebens aufgegeben und war bereit, zu sterben. Da hörte sein Ohr ein Geräusch, und ruhiger Odem schien seine Stirn zu treffen. Als er seine Augen öffnete, fand er das Zimmer von lichtem Schein erfüllt, und er sah eine zarte Gestalt an seiner Seite.

»Was willst du?« sprach er mit schwacher Stimme.

»Ich will dir helfen.«

»Kein Heiland kann mir helfen. Wer bist du, daß du mir helfen willst?«

»Das kann mein Anblick dir sagen. Was siehst du?«

»Ich sehe, daß du Flügel hast. Also bist du wohl ein Schmetterling?«

»Ich bin stärker als ein Schmetterling. Ich bin ein Engel.«

Da lächelte der Kranke und sprach: »Auch ein Engel kann mir nicht helfen. Ich glaube nicht an euch und finde, daß du schwächer und zarter bist als ein Kind. Wer mir helfen will, der muß mich tragen können, der muß stark sein wie ein Riese.«

Der Engel erwiderte: »Das bin ich. Wenn du mich nur fassen willst, dann kann ich stärker werden als jeder Riese, und nicht nur dich, die ganze Menschheit will ich tragen. Gib mir deine Hand!«

»Meine Hand will ich dir geben,« sprach der Kranke. »Warum soll ich mich sperren! Der Arzt verlangt ganz andere Dinge von mir.«

So gab er seine Rechte, und siehe da! Er konnte sich schon aufrichten, und aus den Augen des Engels kam ein Glanz, der fiel mit seltsamer Kraft in seine Seele. Er richtete sich nicht nur auf, sondern er stieg auch aus dem Bett und stand auf eigenen Füßen, und er stand nicht nur, er konnte sogar wieder gehen. Und wunderbar, ihm schien, als wäre sein Helfer in der kurzen Zeit gewachsen und wäre nicht mehr kleiner als ein Kind, sondern größer als ein Mann. Dann gingen sie zusammen nach draußen, und dem Menschen war zumute wie einem, der genesen soll, und Frühlingslüfte umfächelten ihm Stirn und Wangen.

Er fragte den Engel: »Wohin führst du mich?«

»In Himmelshöhen,« war die Antwort. »Du sollst fliegen.«

»Ich kann nicht fliegen. Du mußt mich tragen.«

»Laß nur meine Hand nicht los! Wenn du mir vertraust, dann werden dir Flügel wachsen.«

Und nun flogen sie und stiegen empor zu den silberhellen Wolken. Sie flogen wirklich und kamen höher und höher, und noch immer wuchs der Engel und wuchs und wuchs, und seine Schwingen überwuchsen die Wolken und reichten bis an das kristallene Gewölbe dort oben. Aus dem Herzen des Menschen war jedes Gefühl der Krankheit verschwunden, und nie gekannte Kraft durchströmte seine Seele.

Und als sie ihren Flug beendet hatten, da standen sie auf Bergeshöh' und Firnenschnee, und des Menschen Auge ging bis in ungeahnte Weiten, und er meinte, er könne die ganze Welt überschauen.

»Willst du nun noch sterben?« fragte sein Begleiter, und seine Stimme klang wie Heerhornruf.

»Sterben?« rief der Mensch. »Hab' ich je gesagt, daß ich sterben wollte? Ich will nicht sterben, kämpfen will ich! Weit vor mir, aber doch erreichbar, seh' ich Siegeskränze leuchten. Nah und näher werd' ich ihnen kommen, ich werde sie fassen, denn ich kann fliegen, ganz allein kann ich fliegen!«

»Fliege!« befahl der Engel.

»Das will ich,« sagte der Mensch, »aber erst, du wunderbares Wesen, das aus einem Schmetterling zum Riesen ward, erst künde mir, woher du kommst und wer du bist.«

»Ich bin die Hoffnung,« war die Antwort.

*


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