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Die Führer der Herde

Als Jesus von Nazareth durch die Lande zog, da sprach er ein Wort, das war mild und gut: »Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.« Da folgten ihm alle, die viel gestoßen und getreten wurden, und atmeten leichter und freier in freudiger Hoffnung.

Das vernahm auch das Schaf, und es nahte sich demütig: »Herr, darf auch ich dir folgen?«

»Warum wolltest du mir denn folgen?« fragte der Herr.

»Weil ich so geduldig bin, werd' ich immer geschoren, und wenn ich geschoren bin, dann friert mich.«

»So folge mir,« sagte der Herr, und das Schaf und alle, die seines Geschlechts waren, schlossen sich ihm an.

Es dauerte nicht lange, da kam auch das Kamel und bat: »Herr, ich habe einen schwachen Kopf, und da lädt man meinem Rücken mehr auf, als er tragen kann. Darf ich dir folgen?«

»Folge mir,« sagte der Herr, und er lächelte; aber das Kamel war froh, und seine ganze Sippe zog hinterher.

Nach einer Weile kamen noch ein Fuchs und ein Wolf, und sie fragten auch: »Dürfen wir dir folgen, Herr?«

»Nein,« war die Antwort, »euch kann ich nicht gebrauchen. Ihr seid vom Herrenvolk und habt gar nichts zu tragen.« »Doch,« sagte der Fuchs, »wir tragen schwer an unserm bösen Ruf. Wenn wir dir folgen dürfen, so wird es sehr viel besser damit werden. Ich verspreche dir, ich will fortan alle Kamele von Herzen bedauern.«

»Und ich die Schafe lieben,« fügte der Wolf hinzu.

»Gut, ich will es mit euch versuchen,« sprach der Herr.

So geschah es, und Schaf und Kamel, Fuchs und Wolf folgten in friedlicher Eintracht, solange der Erlöser auf Erden wandelte. Aber eines Tages ward er hinweggenommen, und sogleich stockte der große Zug der Mühseligen und Beladenen; keiner wußte, wohin des Weges, und alles drängte sich zusammen zu einem bangen Haufen.

»Ach,« klagten da die Kamele, »wer wird uns nun führen?«

»Ich,« sprach der Fuchs.

»Weh uns!« jammerten die Schafe, »wer wird uns fortan beschützen?«

»Ich,« rief der Wolf.

Da mußten alle zufrieden sein, und so kam es, daß Fuchs und Wolf in Christi Herde zu Macht und Ansehen gelangten, aber bis auf diesen Tag seufzen die Kamele noch unter unerhörten Lasten, und die Schafe werden noch geschoren und manche gefressen.

*


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