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Das Genie auf der Marterbank

Es geht ein Lied der Klage: Was wir so bitter nötig haben, das wird totgeschlagen, und die Tat wird nicht bestraft. –

Es war eine Schule und ein Genie, und man zwang das Genie, in die Schule hineinzugehen. Auf dem Lehrpult saß der Herr Rektor Pedant, und er hörte auf das, was ihm von der weisen Frau Pädagogik ins Ohr geflüstert ward.

»Was kommt da für ein sonderbares Tier?« fragte der Herr Rektor. »Das hat ja Flügel und Krallen, und scharfe Zähne hat es auch. Marsch, weg damit! So etwas können wir hier nicht gebrauchen.«

»Halt, mein lieber Herr Rektor!« sagte da die bedächtige Frau Weisheit. »Unsere Kunst wird mit allem fertig, sie gibt sogar den Kretins erleuchtete Köpfe. Das dort scheint ein sonderbares Original zu sein. So paßt es allerdings nicht in unsere sorgsam geordnete Welt hinein; aber deine Aufgabe ist, daraus einen normalen Menschen zu machen.«

Da rief der Meister alle seine Gesellen, und sie begannen das Unding nach bewährter Methode zu behandeln. Das wollte es sich aber nicht gefallen lassen; es war widerspenstig und kratzte und biß.

»Das wollen wir dir schon abgewöhnen, mein Junge,« rief der Herr Rektor, und da ward das Genie gebunden, und man beschnitt ihm seine Krallen, und die schärfsten Zähne wurden ihm gezogen.

Nun glaubte man es gezähmt zu haben. Man gab ihm lateinische und griechische Tränklein ein, und es mußte langsamen Schritt machen. Das wollte aber gar nicht gelingen; es hüpfte immer, und zuletzt flog es sogar, und dann kostete es sehr viel Mühe, es wieder einzufangen.

»Dem muß ein Ende gemacht werden,« flüsterte Frau Pädagogik, »Federn sind für kultivierte Geschöpfe eine widernatürliche Sache. Rupft das Küken!«

Da ward das Genie wirklich gerupft, und als es nicht mehr fliegen konnte, ging es in sich, ward zahm und machte langsamen Schritt wie die andern auch. Aber wie sah das arme Geschöpf jetzt aus! Wie eine junge Eiche, die die Maikäfer kahl gefressen haben. Das fiel auch dem Meister und seinen Gesellen auf, und damit es lieblicher anzusehen wäre, strichen sie es mit reiner weißer Farbe an. Als diese trocken war, ward es auch noch lackiert, und nun war sein Anblick ein Labsal für alle gebildeten Augen.

»Unser Werk ist gelungen!« triumphierte der Herr Rektor Pedant. »Der normale Mensch ist fertig!«

Ach, das Genie war tot!

*


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