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Die eherne Pforte

Da war ein Königssohn, der war seinem Lehrer weggelaufen. Als er nun so dahinstrich, kam er an einen Garten voll von hohen Bäumen, aber eine mächtige Mauer verwehrte den Eintritt. Der Prinz wäre gern hinüber gewesen, aber er konnte sie nicht erklettern. Da fand er endlich eine Pforte, die war aus Kupfer getrieben. Er wollte sie öffnen, doch er merkte, daß sie verschlossen war. Oben daran stand in goldenen Buchstaben die Inschrift: »Das Land, das jenseits der Kindheit liegt«. Als er das las, ergriff ihn eine unnennbare Sehnsucht; er ballte seine Hand und schlug dreimal heftig gegen das Tor.

Da ward es aufgetan, und ein ruhiger Greis trat hervor, der sagte mit sanfter Stimme: »Was willst du, mein Junge?«

Der Prinz erwiderte: »Ich bin kein Junge, ich bin ein Königssohn.«

»Ei,« sagte der Greis hinwieder, »ein Königssohn wie du kann doch auch wohl ein Junge sein. So hat man mir gesagt, du seiest deinem Lehrer weggelaufen.«

»Freilich,« war die Antwort, »ich hab' es nämlich satt, mir immer sagen zu lassen: Tu dies, und lasse das! O, daß ich erst groß, daß ich erwachsen wäre! Dann hätte mir keiner zu befehlen, und ich täte, was ich wollte.«

»Da wäre dir leicht zu helfen,« meinte der Alte, »ich brauchte dich nur eintreten zu lassen in diese Pforte, und aus dem kleinen Prinzen würde im Nu ein großer König werden. Aber ich warne dich: dann lässest du die muntern Spiele hinter dir, das sorglose Leben und den ruhigen Schlaf. Darum wachse langsam, wie die Eiche wächst, und erwarte geduldig deine Zeit.«

Aber der Königssohn hörte nicht auf den Rat des weisen Mannes, er hob flehend seine Hände empor und sagte: »Bitte, laß mich ein in das Land, das jenseits der Kindheit liegt!«

Da gab der Greis nach und ließ ihn eintreten. Wie sonderbar ward ihm ums Herz! Es dehnte sich in seinen Gliedern, es brauste ihm in den Ohren, und als er wieder so recht zur Besinnung kam, da war er kein Knabe mehr; er war König und saß auf einem goldverzierten Throne. Als er dessen inne ward, sprang er jauchzend auf und rief: »Nun bin ich groß, groß und frei, nun will ich mir ein rechtes Vergnügen machen!« und er klatschte in die Hände, daß seine Diener kämen.

Wer aber hereinkam, das war der erste Minister, und der König winkte, daß er gehen solle, und meinte, für ihn sei heute keine Zeit; doch so leicht ließ sich der Mann nicht abweisen, er reichte dem König ein Pergament und sagte: »Es ist eine Sache, die keinen Aufschub leidet. Eure Majestät müssen über Krieg oder Frieden entscheiden. Mein Rat ist, dies Blatt zu unterschreiben, also Krieg!«

Der König wußte nicht, was er zu diesen seltsamen Worten sagen sollte; er nahm das Blatt und die Feder in die Hand und ließ den andern eine Weile zurücktreten. Ein seltsames Bangen zog durch seine Brust, er las die Worte und las sie zum zweiten und zum dritten Male und wußte doch nicht so recht, was er gelesen hatte, und noch weniger, was denn nun eigentlich sein sollte, Krieg oder Frieden. Und da war ihm, als sei er nicht mehr allein auf dem Throne – und er war wirklich auch nicht mehr allein. Zwei sonderbare Frauen sah er, die eine zu seiner rechten und die andere zu seiner linken Seite. Und die zur rechten Seite war ein Weib mit braunrotem Haar und stolzem Wesen, aber die zur linken war eine verschrumpelte Hexe mit trüben Augen und faltiger Stirn.

»Krieg!« sagte die zu seiner Rechten, »räche dich an deinen Feinden! Große Taten wirst du tun und unsterblichen Ruhm erwerben.«

»Friede!« flüsterte das Weib zu seiner Linken, »du schickst Tausende in den Tod, umsonst in den Tod, und dein ganzes Volk wirst du verderben.«

»Wer seid ihr?« fragte der König mit bebender Stimme. »Ich bin die Leidenschaft,« sagte die eine.

»Ich bin die Sorge,« sagte die andere.

Da trat der Minister herzu und fragte: »Wie haben Majestät entschieden?«

»Mir ist nicht wohl,« gab der König zur Antwort. »Reicht mir einmal den Spiegel her, der dort an der Wand hängt.«

Und als er den Spiegel in den Händen hielt, da sah er, daß das Haar an seinen Schläfen grau geworden war.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll!« rief er aus. »O, diese Qual! Verwünscht sei die Krone, die mir alle Ruhe raubt! Ich wollte, ich wäre wieder ein Kind, ein spielendes Kind!«

Er hatte das kaum ausgesprochen, so war alles um ihn her verschwunden; er stand wieder an der ehernen Pforte, und bei ihm war der milde Greis.

Er fragte: »Soll ich dir wirklich die Pforte öffnen?«

»Nein,« sagte der Knabe, »mir ist, als hätt' ich einen Augenblick schwer geträumt.« – –

Und dann ging er, seinen Lehrer zu suchen.

*


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