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Der Pfeil

Der Genius des Kampfes schoß einen Pfeil ab von der Sehne seines Bogens. Mit feinem Klang fuhr er in die Luft und verlor sich in blaue Ferne.

»Ach!« seufzte neben ihm eine Stimme.

Der Genius wandte sich seitwärts und bemerkte dort einen Strauch mit festen, schlanken Zweigen, und unter diesen Zweigen der geradeste und größte hatte jenen Seufzer ausgestoßen. Es war ein Zweig, der in die Augen fiel; er trug grüne Blätter und leuchtende Blüten.

»Was willst du?« fragte der Genius.

»Ich will auch nach oben,« sagte der feste, schlanke Zweig, »ich will frei sein; in die Lüfte will ich.«

»Wer nach oben will, muß Opfer bringen,« antwortete der Genius, »und das können nicht alle.«

»Sage mir, was ich tun muß,« bat der Zweig, »ich fühle in mir eine heilige Sehnsucht, der ich nicht widerstreben will.«

»Ich muß dir vieles nehmen, was dir lieb und wert ist,« begann der Genius, »zuerst deine grünen Blätter.«

»Es ist so schön, ein grünes Kleid zu tragen,« flüsterte der Zweig, »aber nimm sie hin.«

»Und dann muß ich dir die leuchtenden Blüten nehmen.«

»Ach, die Blüten! Doch es sei, auch die Blüten will ich missen.«

So hatte der Zweig beides verloren, die Blätter und die Blüten; er war kahl.

»Und jetzt kommt das Schwerste,« sagte der Genius. »Es wird sehr schmerzen; aber ich muß dich mit der Schärfe meines Schwertes trennen von dem, womit du bis jetzt zusammengehangen hast. Wer steigen will, muß es ertragen, einsam zu sein.«

»Trenne mich!« rief der Zweig, und es fuhr ihm wie ein scharfer, schneidender Strahl durch Mark und Gebein.

Aber nun war es überstanden. Der Genius glättete das feste, biegsame Holz, und bald trug es oben die stählerne Spitze und unten an den Seiten weiße Schwingen. Und dann kam der Augenblick, wo es sich auf der Sehne des Bogens fühlte, und es war ihm, als fasse ein ungeheures Schicksal alle seine Kraft zusammen. Ein scharfer Klang, – und der neue Pfeil stieg empor, jauchzend, jubelnd, losgelöst von der Erde, die uns alle gefangen hält, empor nach einem großen Ziele, und stieg auch nicht vergebens: er holte den König der Lüfte herunter, den Adler.

Wer in die Höhe will, muß Opfer bringen.

*


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