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Misericordia

Christus geht durch unsere Zeit. Er geht dahin, wo viele Menschen sind, er steigt hinab in die Bergwerke, wo Kohle und Eisen gebrochen werden, und tritt ein in die Fabriken, wo man sie gebraucht, um unter dem Stampfen der Hämmer, dem Surren der Räder und dem Knirschen der Bohrer Kanonen, Schiffe und Dampfwagen zu schaffen.

Und Christus spricht: »Ich bin hier, ihr Mühseligen und Beladenen, ich will euer Tröster sein.«

Doch das Brausen der Maschinen übertönt seine Stimme. Da sagt er nochmals und spricht lauter: »Ich bin hier, euer Heiland, ich will euer Führer sein.«

Aber die starken berußten Männer lächeln, halb vor Mitleid, halb aus Hohn: »Geh weiter, wir brauchen keinen Heiland. Wir sind Millionen und halten zusammen gegen die ganze Welt.«

Und Christus geht weiter, von den Vielen geht er zu dem Einzelnen, er tritt ein in die stille Stube des Gelehrten und sagt zu ihm: »Ich bin hier, dein Erlöser, dein Heiland. Du Einsamer, ich will dein Helfer sein.«

Aber der Gelehrte lächelt und sagt: »Wenn ich auch einsam bin, so bin ich doch stark. Gib acht, mit diesem Rohr sieht mein Auge bis zu dem allerfernsten Gestirn, wo noch niemals die Predigt von deinem Kreuz erklungen ist. Mit diesem Glase sehe ich in das feinste Geäder der Welt, und das Unsichtbare wird sichtbar vor meinem Blick; mit diesem Draht spreche ich um die ganze Erde, oder übertrage damit die Kraft von tausend Rossen. Übrigens bin ich gar nicht einsam. Schau dir die tausend Bücher an, die von den Wänden auf mich herabsehen: sie reden eine leise, fast unhörbare Sprache; aber ich verstehe sie und fühle mich wie ein Kriegsmann in einem großen, mächtigen Heer.«

Christus geht weiter, und er denkt: »Was tust du noch auf Erden! Die Vielen und die Einzelnen sind stark und mündig geworden – mich braucht keiner mehr.«

Als er nun weiter schreitet, sieht er am Wegesrand einen Unglücklichen liegen: seine Füße bluten von der Mühsal des Wanderns, die Kleider hangen ihm in Fetzen vom Leibe, und seine verschmachtenden Lippen flüstern »Wasser!«

Da kniet der Heiland nieder, und er tränkt den Verdurstenden; der aber schlägt die brennenden Lider auf, er sieht ihm dankbar ins Auge und sagt nur: »Mein Heiland und mein Gott!«

Und das Herz des Erlösers schwillt in Glück und Freude; denn er sieht, daß er noch immer vonnöten ist, und er tut wie ehedem: er geht zu den Zerschlagenen und Verlassenen.

*


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