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Der Schatten des Rabbi von Nazareth

Im säulengetragenen Vorhof der Heiden. Die Sonne steht um die Vesperzeit; schräg fallen ihre Strahlen auf das bunte Gewühl der Menge, die sich andachtlos und schwatzend um die Tische der Geldwechsler und Taubenkrämer drängt. Ein Schieben und Stoßen, ein Feilschen und Fluchen. Und bei den Geldwechslern sitzt auch der alte Rabbi Moses von Alexandria, der Anwalt aller derer, die sich mit einem unüberlegten Gelübde billig abzufinden suchen.

Da plötzlich fällt in das betäubende Gesurre eine atemlose Stille. Laute strafende Worte: »Mein Haus soll ein Bethaus sein, und ihr habt eine Mördergrube daraus gemacht!« – und auf diese Worte folgen die scharfen Hiebe der Geißel.

Laute Schreckensrufe ertönen: »Der Rabbi von Nazareth! – Der Messias! – Der König aus Davids Stamm!«

Die Geldwechsler raffen ihre Münzen an sich, die Taubenkrämer suchen ihre Käfige zu retten; aber die fliehende Menge überrennt sie: Tische, Stühle und Käfige werden umgeworfen.

Die Halle wird leer; nur einer ist nicht geflohen: der alte Rabbi aus Alexandria hockt gleichmütig hinter seinem Tischchen und blickt ruhig in die zornflammenden Augen des Heilands, der mit erhobener Geißel vor ihm steht; er sagt: »Bin ich ein Betrüger oder Fälscher, daß du mich mit Gewalt von meinem Platze treiben willst?«

»Aus Wahrheit machst du Lüge,« ruft Jesus, »Treue verkehrst du in Untreue. In dir ist die Macht der Finsternis, und im Hause des Herrn soll Licht sein.«

»Finsternis bringen wir alle,« erwidert der Alte. »Man sagt, du seist ein großer Prophet, der einen neuen Glauben künde. Sieh hinter dich, Rabbi von Nazareth!«

Jesus blickt hinter sich, und er bemerkt den riesenhaften Schatten eines Mannes mit drohend erhobener Geißel.

»Wenn du auch das Licht der Welt bist,« fährt jener fort, »auch von dir wird Schatten ausgehen, und du wirst ihn nimmer tilgen können. Immer wieder kommen die Zeiten der sinkenden Sonne; der Schatten wird wachsen, und ihrer sind viele, die gern in seinem Dunkel weilen.«

So spricht er; der Rabbi von Nazareth läßt langsam die erhobene Hand sinken, die noch immer die Geißel faßt. Ein Schatten ist auch in seine Seele gefallen; es beginnt darin ein Ringen und Kämpfen, das erst zu Ende gehen wird in der kommenden Nacht von Gethsemane.

*


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