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Das war das heilige Ei von Tschandernagar: es hat die Welt bedeutet und ist doch entzweigegangen.
Es ist nicht gewöhnlicher Natur gewesen, obwohl es aussah, wie ein gut ausgewachsenes Hühnerei; denn in Wirklichkeit war es nicht von einem Huhn, sondern von einem Hahn gelegt worden, natürlich von dem Hahn eines Brahminen. Die Sache beruhte auf Wahrheit; das geht schon daraus hervor, daß der Name des Brahminen durch alle heiligen Urkunden in gleicher Schreibart überliefert worden ist: er hieß Papaladaka, und die Geschichte von dem Ursprung des heiligen Eis lautet folgendermaßen:
Eines Tages ging der Brahmine Papaladaka in das Haus der Mandananika, das war seine Nachbarin; er ging, um ihr Trost zuzusprechen, denn ihre Kuh war gestorben. Als er in das Haus eintrat, fand er die Frau nicht darin; da ging er in den Stall, und dort geschah nun das Wunder, oder vielmehr, es war schon geschehen. Sein Auge fiel nämlich auf seinen Hahn Kakirikaka – was hatte sein Hahn in dem Stalle der Mandananika zu suchen! – der saß auf dem Nest von dem Huhn Gakalagaka, das gehörte der Nachbarin. Als der Hahn seinen Herrn sah, lief er vom Nest herunter, sah ihn bedeutungsvoll an, schlug mit den Flügeln und krähte nicht etwa, nein, er gackerte wie ein Huhn, das ein Ei gelegt hat, und als der Brahmine nachsah, fand er wahrhaftig ein Ei, das hatte drei gelbe Flecke. Selbiges Ei nahm er ehrfurchtsvoll in die Hand, und dann rief er mit heller Stimme: »Mandananika!«
Das hörte Mandananika, und sie kam herbei.
»Frau Nachbarin Mandananika,« fragte der Brahmine, »legt dein Huhn solche Eier?«
»Nein,« antwortete die Frau. »Eier mit gelben Flecken legt mein Huhn nicht. Mein Huhn Gakalagaka legt alle zwei Tage ein Ei; gestern hat es eins gelegt, und das nächste ist erst morgen fällig.«
Da erzählte der Brahmine, was er gesehen und gehört hatte, und als die fromme Frau das vernahm, kniete sie nieder und rief andächtig: »O Gott Brahma, das ist ein Wunder!«
»Das ist mehr als ein Wunder,« bestätigte der Brahmine, »das ist ein neuer Glaube.«
Nun gingen sie zusammen vor das Volk, der Brahmine Papaladaka und die fromme Frau Mandananika; er trug das Ei und sie den Hahn, und mit gewaltigen Worten erzählten sie die seltsame Geschichte, sagten auch, sie würden die Hand dafür ins Feuer legen, daß sie sich gewiß und wahrhaftig so zugetragen habe. Als das Volk solches hörte, entstand eine Bewegung, und die einen glaubten, und die anderen glaubten nicht, und die nicht glaubten, sagten, nicht der Hahn Kakirikaka, sondern das Huhn Gakalagaka habe das Ei gelegt, und weil sie die zahlreichsten waren, stürmten sie an und wollten das Ei zerbrechen. Doch das gelang ihnen nicht; denn der Brahmine war ein großer Mann, und er hob es hoch empor. Aber dem armen Hahn ging es an den Kragen; denn weil die Frau ihn nicht so hoch zu heben vermochte, ward er gepackt und ihm der Hals umgedreht.
So bekam der neue Glaube einen Märtyrer, und Märtyrer machen eine schwache Sache stark. Als der Hahn seinen letzten Gacker getan hatte, ward es einen Augenblick still im Volk, und das benutzte der Brahmine. Der Schmerz um sein hingemordetes Federvieh gab ihm solche Fülle und Kraft des Wortes, daß er die Übeltäter so jämmerlich zusammenredete, daß sie zuletzt alle winselnd am Boden krochen, und sie waren zu allem bereit. Zur Sühne des ungeheuren Frevels mußten sie Hab und Gut stiften; davon ward ein großer Tempel errichtet, und im Allerheiligsten dieses Tempels erhob sich hinter geweihten Schranken ein silberner Dreifuß, darauf stand ein schlanker goldener Becher von durchbrochener Arbeit; darin ruhte das heilige Ei, so daß es mit seiner Spitze heraussah. Der Hahn Kakirikaka erstand zu neuem Leben; er ward ausgestopft und auf einen anderen Dreifuß hinter das Ei gestellt. Sein Haupt war stolz emporgereckt, seine Flügel hielt er ausgebreitet, und er sah so natürlich und so lebendig aus, als ob er imstande wäre, gleich ein neues Ei zu legen.
Nun wuchs der neue Glaube. Aus ganz Indien kamen Büßer, Pilger und Hilfesuchende nach dem Tempel des heiligen Eis von Tschandernagar. Sein Anblick half unfehlbar gegen Zahnweh und Gelbsucht; ein Wunder nach dem andern geschah, und der Wunder wurden zuletzt so viele, daß ihre Reihe gar nicht abreißen wollte, und nichts bezeugte mehr die Wahrheit der heiligen Geschichte als diese ununterbrochene Wunderreihe.
Und dann kamen die Philosophen.
Philosophen brauchen nichts als einen Haken, um ihre verschlungenen Gedankennetze daran aufzuhängen; ob solcher Haken aus Holz oder Eisen ist, das ist ihnen einerlei. Sie werden es auch verstehen, ein heiliges Ei mit wundersamen Geweben zu umspinnen, die mit leuchtenden Farben antworten auf die Strahlen der Sonne.
Solche Philosophen kamen und setzten sich vor den silbernen Dreifuß nieder, aber so, daß sie ihm den Rücken zuwandten, und ihre Kunst bestand darin, daß sie den Hals so lange verdrehten, bis sie das heilige Ei mit ihrem Angesicht erfassen konnten. Im selbigen Augenblick wurden sie erleuchtet und ergründeten die tiefsten Geheimnisse der Welt.
So ward der neue Glaube vollendet, und seine Lehre lautete folgendermaßen: Gott Brahma offenbarte sich in dem Hahn Kakirikaka; doch die Menschen verstanden ihn nicht und schlugen ihn tot. Zuvor aber hat er von der Kraft des Himmels durchdrungen das wundertätige Ei von Tschandernagar gelegt. An diesem Ei hängt die Zukunft der Welt. Wird es zerbrochen, dann stürzen auch die festesten Königsthrone zusammen, alle Altäre werden vernichtet, und die Erde platzt auseinander. Drei gelbe Flecke sind an diesem Ei, aber trotz dieser drei gelben Flecke ist das ganze Ei weiß, und von dieser leuchtenden Weisheit gehen alle tiefen und guten Gedanken in der Welt aus. Kein menschlicher Blick vermag in das Innere der Schale zu dringen und ihren Inhalt zu sehen; aber das ist sicher, daß darin alles Reine, Edle und Schöne enthalten ist, und wer aus tiefstem Herzen glaubt, dem erschließt sich dieser Inhalt, er weiß zwar nicht wie, aber er wird selig werden. Wer aber nicht glaubt, daß der Hahn Kakirikaka das Ei gelegt hat, der muß verdammt werden.
Man mag sagen was man will, aber das läßt sich nicht leugnen, daß viel Gewaltiges ausging von dem großen Tempel von Tschandernagar. Ein Blick auf das heilige Ei weckte Helden und Künstler, und ein Gebet zu ihm gab Trost und Erquickung. Unter seinem Zeichen sammelte sich zerstreute Schwäche zu geschlossener Kraft, und die Welt hatte einen Mittelpunkt. Der junge Glaube ward ein sehr alter Glaube, aber da kam es, wie es kommen mußte: wenn ein Glaube ganz alt wird, dann bekommt er zuletzt Risse und verschlissene Stellen wie ein menschliches Gewand, und er muß geflickt werden; manchmal sind aber der Löcher so viel, daß man sie nicht mehr decken kann.
Nun war eine neue Zeit gekommen, aber auch sie vermochte dem heiligen Ei nicht allzuviel anzuhaben. Noch immer strömten die Scharen der Gläubigen und Wundersüchtigen hinzu. Da geschah es, daß unter den Brahminen einer war, der hieß Karukajota; der war weit herum gewesen und hatte manch tiefen Blick in die Natur getan. Der sah den Hahn Kakirikaka an von hinten und von vorn, und danach sah er das heilige Ei an, und es entstand ein Zweifel in seinem Gemüt, und weil er ein Mann war, trat er vor das Volk und gab diesen Zweifel kund. Er sprach also: »Gewiß ist das Ei von Tschandernagar ein heiliges Ei, und in seine Schale geht eine Welt hinein; aber daß dies Ei von einem Hahn gelegt sei, das glaube ich nimmermehr. Es ist gegen die Natur des Hahns, Eier zu legen, und die Natur hat ihre unverbrüchlichen Gesetze.«
Als man den kühnen Brahminen so reden hörte, entsetzte sich ganz Indien, oder wenn man es genauer sagen will: alle alten Brahminen entsetzten sich. Und ihre Weisesten kamen zusammen im Tempel von Tschandernagar, machten einen Kreis um die heiligen Schranken und setzten sich nieder. Gebunden ward der kühne Zweifler vor sie geführt, und der Oberbrahmine sprach: »Willst du deiner Banden ledig sein und das Gewand behalten, das du trägst, dann widerrufe deinen Irrtum und sage: Niemand anders als der unsterbliche Hahn Kakirikaka hat das heilige Ei gelegt.«
Aber der Gefesselte hob trutziglich sein Haupt und sagte: »Der Hahn Kakirikaka mag gelegt haben, was er will, aber das Ei hat er nicht gelegt.«
Als sie das hörten, kam ein Grimm über sie, und sie zogen ihm sein Gewand aus, und dann riefen sie dem Volk zu, das draußen harrte, es möge einen Scheiterhaufen bauen, daß man den Frevler aus dem Leben täte.
Aber der Brahmine Karukajota stand nicht allein. Bei ihm war sein junger Sohn, der hatte einen anschlägigen Kopf und eine flinke Hand. Als der nun sah, daß es mit seinem Vater übel stand, schlüpfte er wie ein Eichhörnchen durch den schützenden Kreis der Brahminen, rüttelte an den morschen Schranken, daß sie zusammenbrachen, langte an dem silbernen Dreifuß empor und nahm flugs aus dem goldenen Becher – das heilige Ei. Als das die Brahminen sahen, wurden sie vor Schreck zu Stein; nur der Oberbrahmine fand noch seine Zunge und schrie: »Weh uns, die Welt geht unter!«
Der junge Bursch lachte; er hob das heilige Ei, zielte und warf es selbigem Oberbrahminen an den Kopf. Da wurden alle wieder lebendig; sie hielten flugs die Nase zu, und der Welt ward ein großes Geheimnis offenbar: Das Ei war faul.
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