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Luzifers Sturz

Das Werk der Schlange war gelungen; Adam und Eva hatten von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen. Der Herr sprach seinen Fluch aus über das Tier und die beiden Menschen. Wie Donnergewölk umschattete es seine Stirn, und die Engel in seinem Gefolge zitterten alle – fast alle.«

»Luzifer, mein ernster Engel!« rief der Herr.

»Was befiehlst du, Herr?« sprach Luzifer und trat vor; er allein war ruhig, er zitterte nicht.

Der Herr erwiderte: »Du sollst das Tor des Paradieses bewachen, daß sie nicht kommen und von dem Baum des Lebens essen. Nimm ein flammendes Schwert und treibe diese beiden hinaus.«

»Ich kann nicht, Herr.«

»Kannst nicht? Fühlst du Mitleid mit ihnen?«

»Ich weiß nicht, was es ist. Das weiß ich aber, daß ich deinen Willen nicht erfüllen kann, solang' es noch einen gibt, der ohne Strafe blieb.«

»Sind sie nicht alle bestraft? Wurden sie nicht mit jenem Fluche belastet, der Ewigkeiten dauert? Wer blieb also unbestraft?«

»Der Versucher, Herr.«

»Du hast gehört, er soll Erde essen und auf seinem Bauche kriechen sein lebenlang. Zum letzten Male: wer blieb ungestraft?«

»Der Versucher, Herr!«

»Wer ist der Versucher?«

»Der ist es, der den Baum der Erkenntnis gepflanzt und ihn mit lockenden Früchten behängt hat; der ist es, der das Wort sprach: Ihr sollt essen von allen Bäumen im Garten, nur von diesem einen eßt nicht!«

Da loderte der Herr auf in göttlichem Zorn: »Ich werde den vernichten, der solches zu sagen wagt!«

»Du kannst mich nicht vernichten, Herr!«

»Wer bist du denn, daß ich dich nicht vernichten könnte?«

»Ich bin der Geist der unbarmherzigen Wahrheit, und es gibt keine Macht, weder in den Höhen noch in den Tiefen, die diese Wahrheit aus der Welt schaffen oder sie vernichten könnte.«

Da ging es wie Gewitter aus von dem Auge des Herrn, und er sprach: »Der Cherub nehme das flammende Schwert und erfülle meinen Willen. Du aber, hinweg von mir! Ich kenne dich nicht mehr!«

Luzifer reckte stolz das Haupt empor und rief: »Ich gehe, Herr, aber ich gehe nicht allein. Her zu mir, wer mir gehört!«

Als die andern Engel solche vermessene Rede hörten, sahen sie ihn mit bangen Augen an, aber keiner folgte ihm. Da lachte Luzifer laut auf in Spott und Hohn, und alle Schrecken des Gerichts klangen wider aus diesem abgrundtiefen Lachen. Dann wandte er sich und ging. Aber horch! es raschelte im Grase. Es wagte doch jemand, dem Verbannten zu folgen – es war die Schlange des Paradieses. –

Das ist die Geschichte, die in keinem der heiligen Bücher verzeichnet steht, das ist die Mär von Luzifers Sturz. Und seitdem waltet unwandelbar das Geschick: Wo der Geist der unbarmherzigen Wahrheit seine Stimme erhebt, er wird vertrieben, überall, bis auf diesen Tag.

*


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