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Der Traum

Adam und Eva waren aus dem Paradiese vertrieben worden. In harter Arbeit sollten sie nun ihr Leben fristen; denn hinter ihnen stand der Hunger und schwang mit dürren Armen seine Stachelpeitsche. Adam suchte Beeren und grub mit blutenden Fingern nach Wurzeln.

Da senkte sich die Sonne zum Untergange und strömte eine Flut von Gold aus über die fernen, baumbesetzten Hügel des Paradieses. Die beiden ersten Menschen sahen hin; ihr Herz war schwer, aber noch sprachen sie kein Wort. Nun ward es Abend. Bleiche Strahlen zuckten auf, wie drohendes Wetterleuchten.

»Siehst du das Schwert des Engels blitzen, den der Herr vor das Tor des Gartens gestellt hat?« flüsterte Adam.

»Ich fürchte mich; ich fürchte mich vor dem Tode,« sagte Eva. »Was ist der Tod?«

Das wußten sie beide nicht; aber sie fühlten es: etwas Unbekanntes, Unfaßbares war ihnen nahe, ob es nun herabschwebte aus den Lüften, oder ob es wie Nebel aus den Wiesen stieg; es war bereit, sie zu bedecken und zu umfassen.

»Wir werden nie wieder in den Garten hineinkommen,« sagte Adam, »unser Ohr wird sich nicht mehr erfreuen am Murmeln der Quelle, die beim Baum des Lebens entspringt; wir werden nie mehr die leuchtenden Früchte pflücken, die uns Kraft und Erquickung verliehen.«

Als er das sagte, füllte sich sein Herz mit unendlicher Sehnsucht, und er breitete seine Arme aus, weit, weit den bleichen, zuckenden Strahlen entgegen; Eva aber barg ihr Angesicht in den Händen und weinte; denn sie wußte, daß durch ihre Schuld das Tor des Paradieses verschlossen war.

»Wir werden niemals all das Herrliche sehen, was im Garten des Herrn ist,« wiederholte Adam noch einmal.

Aber ganz allmählich wurden ihre Glieder von einer weichen Müdigkeit umstrickt, die sie dort im Paradiese nie gekannt hatten, weil es keinen Kummer und kein Herzeleid gab und auch keine Arbeit.

Eva sagte: »Wie werden mir die Lider so schwer, siehe, er ist da, der Tod!«

Es war aber der Engel des Schlafes, der ihnen das Auge schloß, und mit dem Schlafe kam der Traum, und auch der war nicht im Paradiese gewesen. Als sie morgens erwachten, fühlten sie sich erquickt und gestärkt, und Adam rief aus: »Wie wunderbar! Nun hab' ich doch wieder im Paradiese geweilt. Ein Engel des Herrn mit dunkelrotem Blütenkranz im Haar nahm mich an der Hand und führte mich schweigend die alten Pfade.«

Auch mich hat er geleitet,« sprach Eva, »vorüber an dem Baum des Lebens, und mein Herz war leicht und frei und wußte nichts mehr vom Zorn des Herrn.«

Sie gingen gestärkt an ihre Arbeit; die Menschheit begann ihren Eroberungszug, und umdräut von Hunger und Tod lernte sie in Tausenden von Jahren die Welt besiegen und den Fluch Gottes in Segen verkehren; aber eines blieb unter Not und Plage lebendig, die Sehnsucht nach der uralten Heimat des ganzen Geschlechts, die Sehnsucht nach dem Paradiese.

*


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