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Die beiden Karrenschieber

Es war ein mächtiger König, der war über die Maßen stolz auf sich und sein Geschlecht. Vor dem ward einmal ein Weib angeklagt, sie habe einen Zauberspiegel, und was sie darin sehen ließe, wäre Blendwerk der Hölle. Die Hexe verteidigte sich und sagte, sie habe den Scheiterhaufen nicht verdient; ihr Spiegel sage die lautere Wahrheit und wisse die tiefsten Dinge der Welt.

»Gut,« sagte der König, »her mit deinem Spiegel! So zeige er mir das tiefste Geheimnis der Welt.«

Da zog das Weib seinen Spiegel aus der Tasche – morsch und wurmstichig war sein Rahmen, aber das Glas leuchtete hell und klar – und der König blickte eine Weile hinein, dann schüttelte er den Kopf und sagte:

»Narrenkram!«

»Was siehst du?« fragte das Weib.

»Eine Doppelleiter sehe ich,« gab der König zur Antwort, »zwei hohe Leitern, die mit ihrer Spitze gegeneinander lehnen. An der einen steigen Menschen empor, jung und frisch sind sie, und sie werden immer stolzer und kühner, bis sie die Spitze überwunden haben. Dann steigen sie an der andern wieder herunter, matter werden sie bei jedem Tritt, sie schrumpfen zusammen, und wenn sie wieder auf der Erde ankommen, zerfallen sie zu Asche und Staub. Ich weiß nicht, was das soll. Zeige mir, was sich klar verstehen läßt.«

»Fordere!« sagte das Weib.

Der König dachte einen Augenblick nach, dann befahl er: »Dein Spiegel zeige mir den ersten meiner Ahnen, der sich machtvoll emporhob vor dem andern Volk im Lande ringsumher.«

»Sieh hinein!« sagte das Weib.

Wieder schaute der König hinein, aber ergrimmt fuhr er zurück und rief mit drohender Stimme:

»Zum Teufel mit deinem Lügenglas! Es zeigt mir lauter Trug.«

»Wahrheit,« entgegnete das Weib, »sag an, was du siehst.«

»Einen Karrenschieber seh ich,« erwiderte der König. »Ich will wissen, wer dieser ungeschlachte Bursch dort ist?«

»Dein ältester Ahn.«

»Dieser Mensch mit dem Stiernacken mein Ahn? Mit diesen Riesenfäusten, die aussehen, als ob er alles zertrümmern könnte?«

»Gewiß, dergleichen hat er auch getan.«

»Mein Ahn ein Karrenschieber? Bevor ich das glauben soll, muß ich eine untrügliche Probe haben. Kann dein Spiegel mir jenen meiner Vorfahren zeigen, der vor fünfhundert Jahren lebte?«

»Sieh hinein!«

»Dein Spiegel wahre sich! Ich habe sein Bild in meinem Schlosse.«

»Sieh hinein!«

Da sah der König hinein, und er ward ruhig und nickte mit dem Haupte; er sah eines stolzen Ritters wohlbekannte Züge. Als er nun inne ward, daß der Spiegel geheime Kunde hatte und die Wahrheit sprach, faßte sein Herz einen vermessenen Gedanken, und er befahl dem Weibe: »Jetzt sollst du mir denjenigen meiner Nachkommen zeigen, der fünfhundert Jahre nach meinem Tode regieren wird.«

»Das kann ich nicht,« erwiderte die Hexe mit düsterm Hohn, »aber ich werde dir den vor Augen führen, der zweihundert Jahre nach dir – lebt.«

»Her mit ihm!«

»Gemach. Ich gebe dir zu bedenken, daß es für euch Menschen nicht wohlgetan ist, wenn der Schleier weggezogen wird, der die Zukunft deckt.« Weil der König aber nicht hören wollte, hielt ihm das Weib den Spiegel zum dritten Male vor das Gesicht und sagte: »Der Letzte deines Stammes!«

Als der König nun hineinblickte, erschrak er in tiefster Seele; denn wieder sah er einen Karrenschieber, aber diesmal war es kein Mensch von riesigem Bau; er war noch jung, aber sein entartetes Gesicht sprach von niedern Leidenschaften, die seine Seele durchwühlten. Er ging mit schlotternden Knieen und hatte kaum die Kraft zu seinem Tagewerk.

Wortlos winkte der König dem Weibe, und es ging heim ohne Strafe.

*


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