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Der Zauberstab

Da war einer, der trug eine tiefe Sehnsucht in seiner Brust, und er hatte sich vorgenommen, den leuchtenden Stein Kauriwiduma zu suchen, der das Köstlichste war, was es damals auf Erden gab. So nahm er denn einen Stab zur Hand und begab sich auf die Wanderschaft. Aber wie sehr er auch suchte und forschte, niemals tranken seine Augen den erträumten, funkelnden Glanz. Zuletzt sank er müde zur Erde, und er fluchte seinem Geschick. Da hörte er plötzlich eine Stimme, die schien aus der Tiefe zu kommen, ganz aus der Tiefe seines Herzens, und die Stimme lautete: »Schwinge deinen Stab!«

Er aber schalt sein Herz und sprach: »Törichtes Herz, ein Schwert soll man schwingen, aber keinen Stab. Der ist dazu da, daß man sich beim Wandern darauf stütze.«

Dann erhob er sich und wanderte weiter, aber er fand nicht den leuchtenden Stein; nur von Zeit zu Zeit hörte er wieder die mahnende Stimme: »Schwinge deinen Stab!« Es war vergeblich, er wollte nicht hören.

So kam es denn, daß er früh alt ward und grau. Er konnte zuletzt nicht mehr wandern, und er schleppte sich in eine Herberge, die am Wege stand, bettete sich im Stalle auf Stroh, und er fühlte, daß sein letztes Stündlein komme. Da sprach er die bitteren Worte: »Ich habe ein verlorenes Leben gelebt; ich habe es nicht schaffen können, den leuchtenden Stein Kauriwiduma zu sehen.«

Da hörte er zum letzten Male die Stimme, ganz schwach und fein, aber er hörte sie: »Schwinge deinen Stab!«

Das ging ihm zu Herzen; er konnte sich nicht mehr wehren; er tastete mit zitternder Hand an den Rand seines Lagers und ergriff den Stab. Dann hob er ihn empor und schwang ihn mit letzter Kraft. Da ward es plötzlich hell im düsteren Stall, und vor ihm stand eine Gestalt, anzuschauen wie ein Cherub, mit starken Schwingen, und der Cherub sprach: »Ich bin der Geist des Stabes, der dir verliehen ward, und habe lange auf deinen Ruf gewartet. Mache dich bereit, ich bringe dich zu dem leuchtenden Stein Kauriwiduma!«

Da hauchten die Lippen eines Sterbenden: »Nun ist es zu spät! Bringe mich ins Grab!«

So starb einer, der nicht wußte, welche Macht ihm verliehen ward.

*


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