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Das ungesungene Lied

Kein Weib war draußen. Die Jünglinge schichteten einen Erdhügel im Schatten der großen Eiche, die da stand vor dem Tore der Stadt, das nach Damaskus führt. An den Baum gelehnt harrten vier Knaben, Jechonja, Abihu, Joel und Benaja; sie harrten, und jeder von ihnen hielt im Arm eine eherne Urne. Aber die Männer von Jabes umstanden die vier Scheiterhaufen und schauten schweigend in die Glut. Nichts war zu hören als das Knistern der Flammen.

Als nun die Scheiterhaufen herabgebrannt waren, winkten die Männer den Knaben, daß sie kämen, und sie nahmen die Deckel von den ehernen Krügen und sammelten die Asche der Helden. Dann schritten sie alle nach dem Baum, und die Knaben stellten die Urnen in die offene Kammer, die der Hügel umschloß. Danach schlichen sie leise auf den Zehen hinter den Kreis der Männer und Jünglinge.

Nun trat ein Mann an die Gruft; er erhob seine Stimme, und also sprach er, Jared der Streiter: »Ihr Männer von Jabes, zu uns kam das Wort Jerias des Sehers: ›Auf den Höhen von Gilboa liegt Saul erschlagen und sein Sohn Jonathan mit ihm und zwei seiner Brüder. Ihr Männer von Jabes, Philister schreiten über das Feld und bringen Schande über Israel. Sie hängen die Leichen der Helden an die Mauern von Bethsan, Spott ist auf den Lippen ihrer Weiber, ihre Hunde heulen, und ihre Raben flattern.‹ Und als wir das hörten, gingen wir aus in der Nacht, da der Mond nicht schien; wir hielten das Schwert in den Händen, und unsere Jünglinge trugen Leitern. So holten wir die Leichname Sauls und seiner Söhne, so erfüllten wir den Willen Jerias des Sehers.«

Jared schwieg und trat zurück. Da erhob Jeria der Seher seine Stimme und sprach: »Ihr Männer von Jabes, gedenkt an den Tag des Leids, da er ein Tag der Freude ward. Die Kinder Ammons kamen und sprachen: ›Ihr Männer von Jabes seid Staub unter unserm Fuß, wir werden euch allen das rechte Auge ausstechen.‹ Da sprang Saul von den Höhen von Juda wie ein starker Löwe, da riß er Israel mit sich und sein ganzes Heer. Er zerblies die Söhne Ammons, wie der Wind die Spreu zerweht, der vom Libanon kommt. Und als Nahas erschlagen unter seinem Fuße lag, da knieten wir nieder und stammelten Dank. Er aber sprach: ›Steht auf, ich will keinen Dank! Was wollt ihr den erheben, der auf der Höhe steht!‹ Nun aber muß er's dulden. Nun singe du den Preis der Helden, Jehasja der Sänger!«

Und Jehasja der Sänger trat an die Gruft, und sein greiser Bart wallte über die Brust. Seine Harfe hielt er in Händen und rührte die Saiten, aber seine Finger zitterten, als er sang: »Ihr toten Helden, arm ist unsere Gabe, wir haben nichts euch zu geben als das Grab –« und da zitterte auch seine Stimme, und er konnte nicht weiter singen. Er trat näher an die Gruft, beugte sich hinab, und leise legte er seine Harfe auf die ehernen Urnen. Da schaufelten die Jünglinge Erde darüber; dann gingen sie alle schweigend nach Haus, und fürderhin kam kein Lied mehr über die Lippen Jehasjas des Sängers.

*


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