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Der Stab Christi

Es war in der Nacht von Gethsemane. Sie schritten den Ölberg hinan. Das Herz des Heilands war von Trauer erfüllt, und eine bleierne Schwere lag in seinen Gliedern.

»Suche mir einer einen Stab, daß ich mich darauf stütze,« sprach er zu seinen Jüngern, »ich bin müde.«

Sie suchten, fanden aber nichts, was dem Herrn dienen konnte, hatte auch keiner ein Messer bei sich, um einen Stock aus der Hecke zu schneiden. Aber Petrus wußte Rat. Er trug ein Schwert an der Seite, das war scharf geschliffen, und damit hieb er einen starken Eschenzweig vom Baume und gestaltete daraus rasch einen Stab. Darauf stützte sich nun der Heiland, und er ließ ihn auch dann nicht von der Seite, als er mit seinem Gott im Kampfe lag. Erst als ihm die Schergen die Hände banden, fiel der Stab zur Erde. Aber es dauerte nicht lange, und er ward wieder aufgehoben. Malchus war es, dem der Schrecken von dem ungefügen Schwerthieb des Petrus noch in den Beinen steckte. Er schleppte sich daran nach Hause und behielt ihn zum Andenken an die seltsame Stunde. So kam er auf spätere Tage, und weil er aus zähem Holze war, so schien kein Vergang in ihm zu sein. Als das Kreuz nach siegreichem Kampfe auf der Erde herrschte, ward er zu einem heiligen Wahrzeichen. – –

Jahrhunderte waren seitdem vergangen. Da gab es einen mächtigen Kaiser, der dachte, auf der ganzen Welt sei nichts Gewaltigeres als er. Es ist aber nicht gut, so zu denken, und es dauerte denn auch nicht lange, da fuhr es ihm in die Füße, und er fing an zu hinken, erst nur ein wenig, aber dann ward es schlimmer und immer schlimmer, und er schwankte nach beiden Seiten, und das sieht gar nicht gut aus für einen, der herrschen will. Nun hätten ihn seine Diener stützen können, doch dazu war er zu stolz, ließ aber bei allen Ärzten nachforschen, was ihm helfen könnte.

Da kam eines Tages ein weiser Mann zu ihm, der sagte: »Großmächtigster Fürst, dies hier wird dir helfen,« und er wies ihm einen Stab.

»Was ist das für ein Stab?« fragte der Kaiser, »der sieht aber sehr ungehobelt aus.«

»Daran mußt du dich nicht stoßen,« antwortete der heilige Mann. »Es ist eben kein gewöhnlicher Stab. Eine geheimnisvolle Kraft lebt in ihm, und er vermag mehr, als alle Mächte der Welt. Es ist der Stab des Heilands, auf den er sich stützte, als er den Weg ging, der nach Gethsemane führte. Du solltest ihn einmal versuchen.«

»Ja, gib mir den Stab,« sagte der Kaiser. Und siehe, an diesem Stabe konnte er ziemlich gerade einherschreiten, wenigstens dünkte ihn, er könne sich so mit Anstand sehen lassen. Da war er von Herzen froh, und den heiligen Mann beschenkte er sehr reichlich, und er gab ihm viele Macht in seinen Staaten; aber den Stab Christi ließ er hübsch beschneiden und glätten, wo er rauhe Stellen und Knorren hatte. Auch war es ganz natürlich, daß er reich vergoldet ward, und man mußte gestehen, daß sie nun recht gut zu einander paßten, der mächtige Herrscher, der eigentlich nicht mehr allein gehen konnte, und der Stab des Heilands.

Als er starb, vererbte er den wundertätigen Stab mit eindringlichen Worten an seine Nachfolger, und sie hielten ihn in Ehren. So oft einer von ihnen ein bedenkliches Zittern in seinen Gliedern spürte, griff er nach dem Stabe Christi, um sich darauf zu stützen, und das ist Sitte geblieben bis auf diesen Tag.

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