Ferdinand Gregorovius
Corsica
Ferdinand Gregorovius

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Siebentes Kapitel.

Die corsischen Todtenklagen.

Der Charakter der corsischen Todtenklagen begreift sich aus den Todtengebräuchen dieser Nation, welche uralt sind. Bei einem Volk, unter welchem der Tod mehr als anderswo als Würgengel umhergeht, und dem seine blutige Gestalt beständig vor Augen tritt, müssen die Todten auch einen auffallenderen Cultus haben als sonst wo.

Wenn der Tod eingetreten ist, beten die um das Todtenbett stehenden Verwandten den Rosenkranz, dann erheben sie ein Klagegeschrei (grido). Die Leiche wird auf einen Tisch an die Wand gelegt, welcher die Tola (tavola) genannt wird. Das Haupt liegt auf einem Kissen und trägt eine Kappe. Damit die Gesichtszüge nicht ihre Haltung verlieren, wird um Hals und Kinn ein Tuch oder ein Band gebunden und auf dem Scheitel unter der Kappe festgeknüpft. Ist's ein junges Mädchen, so zieht man ihm ein weißes Hemde an und bekränzt die Todte mit Blumen; ist's eine Frau, so trägt sie in der Regel ein buntes Kleid, eine Greisin ein schwarzes. Der Mann liegt im Leichenhemde und mit der phrygischen Mütze, und möchte dann wol einem Todten der Etrusker gleichen, wie ich ihn im Museum des Vatican abgebildet fand, von Klagenden umgeben.

An der Tola wird gewacht und geklagt, oft die ganze Nacht hindurch, und es brennt ein Feuer. Die große Klage aber erhebt man am Frühmorgen vor dem Leichenbegängnisse, wenn der Todte in den Sarg gelegt wird, und ehe die Brüderschaft kommt, um die Bahre aufzuheben. Zur Leichenfeier kommen aus den Dörfern der Umgegend Freunde und Verwandte. Dieses Geleit heißt corteo oder scirrata, ein Wort, welches unserem deutschen »Schar« ähnlich klingt, dessen Ursprung aber kaum zu ermitteln ist. Eine Frau, und dies ist immer die Dichterin oder Sängerin, was hier zusammenfällt, führt den Chor der Klageweiber. Man sagt also in Corsica: andare alla scirrata, wenn die Weiber im Zuge nach dem Leichenhause gehen; ist der Todte ein Erschlagener so sagt man: andare alla gridata, das heißt zum Geheule gehen. Sobald der Chor ins Haus tritt, begrüßen die Klageweiber die Leidtragende, sei es die Wittwe, die Mutter oder die Schwester, und sie neigen Kopf an Kopf wol eine halbe Minute lang. Dann ladet ein Weib der trauernden Familie die Zusammengekommenen zum Klagen ein. Sie machen um die Tola einen Kreis, den cerchio oder caracollo und schwingen sich um den Todten, den Kreis lösend oder wieder schließend, immer mit Klageruf und den wildesten Zeichen des Jammers.

Nicht überall sind diese Pantomimen gleich. An vielen Orten sind sie schon durch die Zeit verdrängt, an anderen gemildert, in den Bergen tief im Innern, zumal im Niolo bestehen sie in ihrer altheidnischen Kraft und gleichen den Todtentänzen Sardiniens. Ihre dramatische Lebendigkeit ist grauenvoll. Es sind nur Weiber, welche tanzen, klagen und singen. Die Haare aufgelöst und mänadenhaft um die Brust fliegend, die Augen voll sprühendem Feuer, die schwarzen Mäntel flatternd, so schwingen sie sich um, stoßen ein Klagegeheul aus, schlagen die flachen Hände zusammen, schlagen sich die Brüste, raufen sich an den Haaren, weinen, schluchzen, werfen sich an der Tola nieder, bestreuen sich mit Staub – dann schweigt das Geschrei, und diese Frauen sitzen nun still, Sibyllen gleich auf dem Boden der Todtenkammer, tiefausatmend, sich beruhigend. – Schrecklich ist der Gegensatz zwischen dem wilden Todtentanz und dem Todten selber, welcher starr auf der Bahre liegt und doch diesen Furientaumel regiert. In den Bergen zerreißen sich die Klageweiber auch das Gesicht bis aufs Blut, weil nach uralter heidnischer Vorstellung das Blut den Todten angenehm ist und die Schatten versöhnt. Dann nennt man dies raspa oder scalfitto.

Das Wesen dieser Klageweiber muß fürchterlich erscheinen, wenn ihr Tanz einem Gemordeten gilt. Dann werden sie wahrhaft zu den schlangenhaarigen Rächerinnen des Mordes, wie sie Aeschylus gemalt hat. So schwingen sie sich um grausenhaft, die Hände in einanderschlagend, heulend, Rache singend, und so gewaltig ist oft die Wirkung ihres Liedes auf den Mörder der es hört, daß ihn Entsetzen und Gewissensangst erfaßt, und er sich selber verrät. Ich las von einem Mörder, welcher verhüllt in den Mantel der Todtenbrüder die Kerze an der Bahre dessen zu halten sich erfrechte, den er mit erschlagen hatte, und der wie er das Rachelied anstimmen hörte, so heftig zu zittern begann, daß ihm die Kerze aus der Hand fiel. Bei Criminalprocessen gelten Zeugenaussagen, daß Jemand bei der Todtenklage gezittert habe, als Schuldbeweise. Ja! mancher Mann auf dieser Insel gleicht dem Orest des Aeschylus, und die Seherin kann von ihm sagen:

Und sitzen sah' ich einen gottverfluchten Mann
Am Erdennabel, schutzgewärtig, frisch von Blut
Die Hände triefend, noch das bloße Schwert zur Hand – –
Um diesen Mann her eine wunderbare Schar
Von Weibern schlafend auf die Sessel hingestreckt;
Doch nicht von Weibern – nein, Gorgonen nenn' ich sie,
Und wieder nicht den Bildern der Gorgonen gleich;
Einst sah ich die gemalet, welche mit Phineus Mal
Von dannen fliegen; aber ungeflügelt sind
Die dort und schwarz und völlig ekelhaft zu schau'n.

Todtenstille herrscht in der Kammer. Man hört nur das Atmen der umherkauernden Klageweiber, welche in ihre Mäntel gehüllt dasitzen, den Kopf auf die Brust gesenkt, tiefsten Schmerz ausdrückend nach althellenischer Weise, wie der Künstler das Haupt dessen verhüllt darstellt, dessen Schmerz über das Maß groß ist. Die Natur selbst hat dem Menschen nur zwei höchste Ausdrucksweisen des Schmerzes gegeben, den Aufschrei des hervorbrechenden Gefühls, indem die Lebenskraft gleichsam alle ihre Geister entfesselt, und das tiefe Verstummen, in welchem die Lebenskraft in Ohnmacht erstirbt. – Plötzlich springt aus dem Kreise der Frauen eine empor, gleich einer begeisterten Seherin hebt sie ein Lied auf den Todten an. Recitativisch trägt sie dies Lied vor, Strofe für Strofe, und eine jede endigt mit Weh! Weh! Weh! welches der Klagechor wiederholt, nach Weise der Tragödie bei den Griechen. Die Sängerin ist auch die Chorführerin, welche das Lied gedichtet hat oder improvisirt. In Sardinien pflegt sie das jüngste Mädchen zu sein. In der Regel werden diese Gesänge, Loblieder oder Rachelieder, in denen der Preis des Todten mit der Klage um ihn oder mit der Aufforderung zur Rache wechselt, auf der Stelle gedichtet.

Wie wunderbar ist der Widerspruch der Cultur in diesem Lande, welches solche Scenen noch lebend erhalten hat, die von unserer Gesellschaft durch eine Kluft von 3000 Jahren getrennt zu sein scheinen. Man sehe also den Todten auf der Tola, die kauernden Klageweiber am Boden; ein junges Mädchen erhebt sich, das Antlitz flammend von Begeisterung singt sie wie Mirjam oder wie Sappho Verse von unerreichbarer Anmut, voll von den kühnsten Bildern, und unerschöpflich strömt die hingerissene Seele rhythmisch, in Dithyramben fort, welche das Tiefste und Höchste menschlichen Schmerzes melodisch sagen. Der Chor heult hinter jeder Strofe Deh! Deh! Deh! – Ich weiß nicht, ob irgend wo ein Bild im Leben aufgefunden werden kann, in welchem sich das Grausige mit der Anmut zu so tiefsinniger Poesie verbindet als in solcher Scene, da ein Mädchen über dem gemordeten Bruder, der in seinen Waffen auf der Tola liegt, als Erinnye aufsteigt, in Versen Rache fordernd, deren blutig wilde Sprache selbst Mannesmund nicht grausender sagen könnte. In diesem Lande hält das niedrig dienende Weib das Gericht, und vor das Tribunal seiner Klage, die hier recht eigentlich Anklage ist, wird der Schuldige geladen. So singt auch der Chor der Mägde in den Grabesspenderinnen beim Aeschylus:

O Kind, bewältigt
Wird des Todten Denken nicht
Durch den blendenden Zahn der Glut;

Spät einst zeigt er sein Zürnen.
Und bejammert wird der Todte: –
Und erkannt wird, der ihn todtschlug;
Um den Vater und Erzeuger
Die gerechte Todtenklage,
Gericht heischt sie mit lautem Schmerzschrei.

Einige dieser Seherinnen, der germanischen Velleda möchte ich sie vergleichen, machten sich wegen ihrer Inspirationen berühmt; so im vorigen Jahrhundert Mariola delle Piazzole, die Führerin der Todtenchöre, deren Lieder aller Orten begehrt wurden, und wie Clorinda Franceschi aus der Casinca. In Sardinien heißen die Klageweiber Piagnoni oder prefiche, in Corsica voceratrici oder ballatrici. Nicht immer sind es die hergebrachten Chorführerinnen, welche singen, vielfach auch die Verwandten des Todten, Mutter, Gattin, besonders die Schwestern. Denn das vom Schmerz erfüllte Herz strömt in kunstlos beredte Klagen über und macht die Sprache erhaben und den Gedanken genial auch ohne Dichtertalent. Außerdem ist die Form der Todtenklagen eine stehende, und wenn der Trauerfall eintritt, hat sich das corsische Weib schon lange vorher in den Lamenten geübt, welche von Mund zu Munde gehen, wie andere Lieder bei uns.

Jener pantomimische Klagetanz heißt im corsischen die ballata (ballo funebre), die Ballade. Man sagt ballatare sopra un cadavere über einer Leiche tanzen. Das Klagen heißt vocerare, das Klagelied Vôcero, Compito oder Ballata. Im Sardinischen heißt jene Ceremonie Titio oder Attito. Man leitet dieses Wort von dem Weheausruf ahi! ahi! ahi! ab, womit die Chorführerin jede Strofe schließt und welchen die Klageweiber wiederholen. Die Lateiner riefen statt dessen Atat, die Griechen wie man in den Tragödien finden kann otototoi, und auch bei uns Deutschen ist der heftige Schmerzensruf ahtatata gebräuchlich, was der an sich erfahren kann, welcher darauf achtet, was er ruft, wenn er sich den Finger verbrannt hat und ballatirend, vor Schmerz springend, mit dem Finger in der Luft schnalzt.

Sobald endlich die Todtenbrüderschaft vor das Haus kommt, um die Bahre zu heben, wird noch einmal ein Klagegeschrei angestimmt, dann bringt das Gefolge den Todten in die Kirche, wo er eingesegnet wird und von der Kirche wiederum mit Klagegesang auf den Kirchhof. Die Feier schließt das Todtenmal, der convito oder conforto. Schon vorher wird denen, welche an der Leiche wachen, ein Essen gegeben, was man die veglia nennt, und jeder Todtenbruder pflegt einen Kuchen zu bekommen. Der Conforto selbst wird den Verwandten und Freunden entweder im Todtenhause oder in der Wohnung eines Sippen gegeben, wohin die Gäste mit ungestümer Dringlichkeit geladen werden. Es ehrt den Todten, wenn das Mal groß gerüstet ist, und war er im Leben eine geachtete Person, so erkennt man das an der Menge der Gäste. Oft wird bei diesem Todtenbankett (banchetto) viel Aufwand getrieben, und auch in die Häuser des Dorfs wird Brod und Fleisch gesandt. Schwarz ist die Kleidung der Nachtrauer, der trauernde Mann läßt oft lange Zeit den Bart wachsen. Kehrt die Jahresfeier des Begängnisses wieder, so wird das Bankett bisweilen wiederholt.

Dies nun ist der corsische Todtencultus, wie er sich noch im Innern und Süden des Landes bis auf den heutigen Tag erhalten hat, der Rest uralter Heidengebräuche mitten im Christentum und mit dessen Gebräuchen vereinigt. Wie alt diese Ballata sei, wann und woher sie in dieses Land getragen worden, ist schwer zu wissen und hier will ich keine Untersuchungen darüber wagen. Nur einige Beziehungen wollen wir nicht entbehren.

Der Schmerzausdruck an der Leiche eines Geliebten ist überall derselbe, das Weinen, die Klage, die redende Erinnerung an das, was er im Leben gewesen war, und an die Liebe, mit der man ihn geliebt hat. Das leidenschaftliche Gemüt bricht in gewaltsame, dramatisch lebendige Zeichen des Jammers aus. Doch hemmt die Macht der Bildung, welche auch die Empfindungen regelt, den Culturmenschen und wehrt dem Naturgefühl die maßlose Geberde. Nicht so bei dem Naturmenschen, bei dem Kinde und dem sogenannten gemeinen Mann, welcher die epische Zeit des Menschengeschlechts mitten in unserer Civilisation noch wiederspiegelt. Will man sich überzeugen, daß epische Menschen, Könige, Helden, Volkshäupter sich im Schmerz ebenso leidenschaftlich geberdeten, wie heute die Corsen bei der Ballata, so muß man den Homer und die Bibel, die Gesänge des Firdusi und die Nibelungen lesen. Esau schreit laut und weint um den gestolnen Segen; Jacob zerreißt seine Kleider um Joseph; Hiob zerreißt sein Kleid und rauft sein Haar und fällt zur Erde und so thun seine Freunde, sie hoben auf ihre Stimme und weinten und ein jeglicher zerriß sein Kleid und sprengeten Erde auf ihr Haupt gen Himmel. David faßt seine Kleider und zerreißt sie um Saul und Jonathan und trägt Leid und weinet und klagt, ebenso weint er auf der Flucht vor Absalom, und sein Haupt war verhüllet und er ging barfuß.

Noch zügelloser sind die Schmerzausbrüche der homerischen Menschen. Achill jammert um Patroclus, die finstre Wolke der Schwermut umhüllt ihn, mit beiden Händen überstreut er mit schwärzlichem Staube sein Haupt;

Aber er selber, groß, aus großem Bezirk, in dem Staube
Lag, und entstellete raufend mit eigenen Händen das Haupthaar.
Mägde zugleich, die Achilleus erbeutete sammt Patroklos,
Innig im Herzen betrübt, aufschrieen sie; all' aus der Thüre
Rannten sie vor um Achilleus, den feurigen, und mit den Händen
Schlugen sie alle die Brust, und jeglicher wankten die Kniee.

Als Hektor fällt rauft Hekuba ihr Haar, und kläglich weint Priamos und jammert, und später sagt er zu Achill, als er ihn um ein Lager zum Ausruhen bittet, daß er stets geseufzt habe voll unendlichen Jammers,

Im Gehege des Hofs auf schmutziger Erde mich wälzend.

Ebenso rauft im Firdusi der Held Rustem sich das Haar um seinen Sohn Sohrab, brüllt vor Schmerz und weint Blut; Sohrabs Mutter wirft sich Feuer aufs Haupt, zerreißt das Gewand, sinkt immer von neuem in Ohnmacht. erfüllt den Sal mit Staub, weint Tag und Nacht und stirbt nach einem Jahr. Die Leidenschaft hat hier ein Riesenmaß von Ausdruck, wie die Heldengestalten selber colossal sind.

In den Nibelungen, der größesten Tragödie der Blutrache, drückt sich die Leidenschaft des Schmerzes nicht minder gewaltig aus. Um den todten Siegfried erhebt Chriemhild das Jammergeschrei. Blut dringt aus ihrem Halse, sie weint Blut an seiner Leiche, und alle Weiber helfen ihr mit Klagen.

Fast an allen jenen Stellen finden wir die Todtenklage als lyrischen Erguß des Schmerzes und zum Liede sich bildend. Um der corsischen Vôceri willen stehe hier das erhabenste Lament von allen, die Todtenklage Davids um Saul und Jonathan:

Weine Israel um die welche durchs Schwert fielen auf deinen Bergen, die Helden Israels sind erschlagen auf den Bergen. Weh! wie fielen die Helden!

Schweiget! Sagt es nicht an zu Gath, verkündigt's nicht auf den Gassen zu Ascalon, daß nicht frohlocken die Töchter der Philister, daß nicht tanzen die Töchter der Unbeschnittenen.

O ihr Berge Gilboa's! nicht Thau, nicht Regen falle auf euch. Nicht soll man Acker haben auf euch, die Hebopfer zu opfern. Denn zerschlagen ist auf euch der Schild der Helden, der Schild Sauls, als wäre er nicht gesalbet mit Oele.

Der Bogen Jonathans hat nie gefehlet, noch ist das Schwert Sauls leer wieder gekommen von dem Blut der Erschlagenen und von dem Fette der Helden.

Saul und Jonathan, holdselig und lieblich in ihrem Leben, sind auch im Tode nicht geschieden, leichter denn die Adler, stärker denn die Löwen.

Ihr Töchter Israels, weint über Saul, der euch kleidete mit Rosinfarbe säuberlich, und schmückte euch mit goldnen Kleinodien an euren Kleidern.

Wie sind die Helden so gefallen im Streit! Jonathan ist auf deinen Höhen erschlagen.

Es ist mir Leid um dich, mein Bruder Jonathan; ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt; deine Liebe war mir sonderlicher denn Liebe der Frauen.

Weh! wie sind die Helden gefallen, und die Streitbaren umgekommen!

Ganz dramatisch ist das Lament um Hektor im letzten Gesang der Iliade und möchte ganz und gar einer Ballata an der Tola gleichen. Auch diesen Vôcero wollen wir noch hören.

Als sie den Leichnam jetzo geführt in die prangende Wohnung,
Legten sie ihn auf ein schönes Gestell, und ordneten Sänger,
Daß sie die Klag' anstimmten; und nun mit jammernden Tönen
Sangen sie Trauergesang, und rings nach seufzten die Weiber.

(Andromeda hebt das Lament an:)

Mann, du verlorest dein Leben, du blühender; aber mich Wittwe
Lässest du hier im Palast, und das ganz unmündige Söhnlein,
Welches wir beide gezeugt, wir Elenden! Ach wol schwerlich
Blüht er zum Jüngling heran! Denn zuvor wird Troja vom Gipfel
Umgestürzt, da du starbst, ihr Verteidiger, welcher die Mauern
Schirmte, die züchtigen Frau'n und stammelnden Kinder errettend.
Bald nun werden hinweg sie geführt in geräumigen Schiffen,
Und mit jenen ich selbst! Doch du, mein trautester Sohn, wirst
Dorthin geh'n mit der Mutter, um Schmach zu erdulden und Arbeit,
Unter des Frohnherrn Zwang, des grausamen; oder es schmettert
Dich ein Achaier, am Arme gefaßt, von dem Turm ins Verderben,
Zürnend, daß Hektor den Bruder ihm tödtete, oder den Vater,
Oder den blühenden Sohn: denn sehr viele Männer Achaia's
Sanken durch Hektors Hände, den Staub mit den Zähnen zerknirschend.
Denn kein Schonender war dein Vater im Grau'n der Entscheidung;
Drum wehklagen ihn nun die Völker umher in der Veste.
Unaussprechlichen Gram der Verzweiflung schufst du den Eltern,
Hektor; doch mich vor Allen betrübt nie endender Jammer!
Denn nicht hast du mir sterbend die Hand aus dem Bette gereichet,
Noch ein Wort mir gesagt voll Weisheit, dessen ich ewig
Dächte bei Tag und Nacht, wehmütige Tränen vergießend.

Also sprach sie weinend, und rings nach seufzten die Weiber.

(Hekuba nimmt das Lamento auf:)

Hektor, du Herzenskind, mir geliebt vor allen Gebornen!
Ach und weil du mir lebtest, wie lieb auch warst du den Göttern,
Welche ja dein wahrnahmen noch selbst in des Todes Verhängniß!
Denn die anderen Söhne, die mir der schnelle Achilleus
Nahm, verkauft' er vordem jenseits der verödeten Salzflut,
Hin gen Samos und Imbros und zur unwirtbaren Lemnos.
Aber da Dich er entseelt mit ragender Spitze des Erzes,
O, wie schleift' er dich oft um das Mal des geliebten Patroklos,
Seines Freunds, den du schlugst; und erweckete jenen auch so nicht!
Dennoch jetzt wie betaut und frisch noch mir in der Wohnung
Ruhest du, jenem gleich, den der Gott des silbernen Bogens
Unverseh'ns hinstreckte, mit lindem Geschoß ihn ereilend.

Also sprach sie weinend, und weckt' unermeßlichen Jammer.

(Helena nimmt das Lamento auf:)

Hektor, o Trautester du, mir geliebt vor des Mannes Gebrüdern!
Ach mir Gemal ist jetzo der göttliche Held Alexandros,
Der mich gen Troja geführt! O wär' ich zuvor doch gestorben!
Denn mir entfloh'n seitdem schon zwanzig Jahre des Lebens,
Seit von dannen ich ging, die heimischen Fluren verlassend;
Doch nie hört ich von dir nur ein Wort im Bösen, noch Unglimpf.
Ja, wenn ein andrer im Hause mich anfuhr unter den Brüdern
Oder Geschwistern des Manns, und stattlichen Frauen der Schwäger,
Ober die Schwäherin auch, denn der Schwäher ist mild wie ein Vater:
Immer besänftigtest du, und redetest immer zum Guten,
Durch dein freundliches Herz und deine freundlichen Worte.
Drum bewein' ich mit dir mich Elende, herzlich bekümmert!
Denn kein Anderer nun in Troja's weitem Gefilde
Ist mir Tröster und Freund; sie wenden sich Alle mit Abscheu!

Also sprach sie weinend; es seufzt' unzählbares Volk nach.

Pelasger, Griechen, Phönizier, die Egypter zumal, die alten Völker Italiens, die Etrusker, die Römer, alle haben sie die Todtenklagen gehabt; nicht minder die Celten, wie die Iren, die Germanen, und dasselbe gilt von den heutigen Naturvölkern in America wie in Africa, wie von den Indern. Auch in Italien finden sich außerhalb Sardiniens und Corsica's ähnliche Todtengebräuche, namentlich im Neapolitanischen.

Schon Peter Cyrnäus findet den corsischen Todtencultus dem der alten Römer sehr ähnlich, welcher unzweifelhaft pelasgisch-etruskisch ist. Auch sie hatten die Klageweiber, welche, wie heute in Sardinien, praedicae genannt wurden, und die Klagelieder Naeniae. Ich habe eine solche römische Nänie schon mitgeteilt, damit man sich ihrer hier erinnere, es ist dies der parodistische Vôcero des Seneca auf Claudius. Beim Leichenbegängniß des Germanicus spricht auch noch Tacitus von den Feierlichkeiten als Gebräuchen der Vorfahren, Lob- und Gedächtnißliedern seiner Tugenden, Tränen und Schmerzaufstachlung. In dem römischen Gesetz der zwölf Tafeln wurde jene Ballata Lessus genannt und als barbarischer Gebrauch bestraft, wie ihn schon das solonische Gesetz verboten hatte: »Es sollen die Weiber ihre Wangen nicht zerkratzen, noch soll der Lessus beim Begängniß gehalten werden; die Weiber sollen ihr Gesicht nicht zerfleischen.«

Auch die Sitte das Todtenmal zu feiern ist uralt. Ich leite mir ihren Ursprung aus drei Dingen ab: das Bedürfniß nach der Erschöpfung durch den Traueract sich zu erquicken; die Ehre welche dem Todten durch ein letztes Festmal erwiesen wird, dessen Geber er gleichsam ist; endlich das mystische Symbol des Essens von Speisen, welches die Rückkehr vom Tode zum Leben ist und ausdrücken soll, wie nun die Trauernden wieder an der Welt der Lebendigen Teil haben. Das Todtenmal bei den Phöniziern, Pelasgern, Egyptern, Etruskern bestand hauptsächlich in Bohnen und in Eiern. Beide Speisen waren Symbole der activen und passiven Lebenskraft, nach der altorientalisch-pythagoräischen Mystik. Noch heute ißt man beim Todtenmal in Sardinien an manchen Orten Bohnen und Eier; daß dies auch in Corsica gebräuchlich ist, habe ich nicht gehört. Bei den Römern hieß das Todtenmal Silicernium. Zum stattlichen Festschmaus in Priamos Hause kehren auch die leidtragenden Trojaner vom Begängniß des Hektor heim.

Die corsischen Vôceri von denen ich nun einige mitteile, sind alle im Dialect gedichtet. In der Regel herrscht das trochäische Maß vor, doch wird es nicht selten durchbrochen. Ebenso ist der dreifache Reim die Regel, doch kreuzt er sich bisweilen. Dieses Maß und die Monotonie der Reime sind von der tiefsten Wirkung, und schwerlich ließe sich ein Rhythmus finden, welcher dem Schmerz anpassender wäre. Die Vôceri selbst scheiden sich in die mildere Klage um den Tod eines Dahingenommenen, oder in das wilde Rachelied. In das Wesen der Corsen werfen diese Lieder ein helles Licht. Sie zeigen, wie heißblütig ihr Herz und wie stark ihre Leidenschaft ist. Bedenkt man, daß diese Lieder fast alle von Frauen gedichtet sind, so muß man erschrecken, weil doch das Weib durch die Natur bestimmt ist, die milderen Empfindungen der Seele auszusprechen und die rohe Kraft des Männlichen zu erweichen. Ich weiß kein Beispiel in aller Poesie der Völker, wo das Grausige und Furchtbare in gleicher Weise zum Stoff des Volksliedes geworden wäre, und hier zeigt sich die Gewalt der Poesie überhaupt, welche auch noch das Schrecklichste mit einem Hauch wehmütiger Schönheit zu mildern vermag. Denn auch der zartesten Empfindungen ist wieder die corsische Poesie im höchsten Maße fähig. Man wird in diesen Liedern die Bildersprache des Homer und wieder die der Psalmen und des Hohenliedes finden. Kunstlos wie sie sind, tragen sie nur das Gepräge von Improvisationen, welche sich beliebig ausdehnen lassen; und weil sie solche sind, lebt in ihnen der geniale Augenblick des trunkenen Herzens. Die ganz unsagliche Unschuld in manchen Vôceri und ihre rührende Natureinfalt entrücken in die Kinderwelt, Hirten- und Patriarchenwelt. Kein Genie des Dichters kann dergleichen Naturlaute erfinden. Daß unter den Stimmen der Völker, welche wir Deutsche zu erlauschen wissen, diese Klagestimme nicht fehle, habe ich einige der corsischen Lamente übertragen, mit der möglichsten Treue in ihrer Form wie in ihrem Ton. Schöne Lieder nennt man wol wie Tränen, die von einem edlen Schmerz geweint werden, Perlen; ich nenne diese Todtenklagen blutrote Corallen aus Corsica.


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