Ferdinand Gregorovius
Corsica
Ferdinand Gregorovius

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.

Lange Zeit ist die Geschichte der Corsen nichts als das blutige Gemälde der Tyrannei ihrer Barone und ihrer Kämpfe mit einander. Die Küsten wurden öde, die alten Städte Aleria und Mariana verlassen; die Strandbewohner flohen aus Furcht vor den Saracenen höher hinauf in die Berge, wo sie feste Castelle anlegten. In wenigen Ländern konnte es einen so grausamen und so rohen Adel geben, als in Corsica. Mitten in einer barbarischen und armen Bevölkerung, in einer rauh-felsigen Natur, ungebändigt durch das Gegengewicht bürgerlicher Thätigkeit, ungezügelt durch die Kirche, von der Welt und ihrem mildernden Verkehr abgeschnitten – man denke sich diese Herren in ihren Felsen hausen und die einmal auf Bewegung angewiesene Natur in Sinnenlust und Rauferei austoben lassen. In andern Ländern sammelte sich dem Adel gegenüber alles Gesetzliche, menschlich sich Entwickelnde in den Städten, gliederte sich in Zünfte, Rechte, Gemeinschaften und schloß sich zu einem Bürgerverband zusammen. Unendlich schwieriger war dies auf Corsica, wo es weder Handel noch Industrie, weder Städte noch einen Bürgerstand gab. Um so merkwürdiger ist die Erscheinung, daß ein Volk von rohen Bauern zu einer demokratischen Verfassung sich aufhilft, man möchte sagen auf patriarchalische Weise.

Die Barone des Landes, im fortwährenden Krieg mit dem gedrückten Volk der Dörfer und unter sich um die Herrschaft streitend, waren am Anfang des elften Jahrhunderts dem Herrn von Cinarca erlegen, welcher sich zum Tyrannen der Insel aufzuwerfen gedachte. So sparsam die Nachrichten sind, so müssen wir aus ihnen entnehmen. daß die Corsen im innern Lande den Baronen hartnäckigen Widerstand geleistet hatten. In Gefahr dem Cinarca zu erliegen, versammelte sich das Volk zu einem Landtage. Dies erste Volksparlament von dem wir in der corsischen Geschichte hören, wurde in Morosaglia abgehalten. Hier erwählten die Corsen einen tapfern Mann Sambucuccio von Alando zu ihrem Haupt, und mit ihm beginnt die lange Reihe corsischer Helden, welche durch Vaterlandsliebe und heroischen Mut groß gewesen sind.

Sambucuccio schlug den Herrn von Cinarca und warf ihn in sein Lehn zurück. Den Erfolg zu sichern errichtete er einen Landesbund, eine Eidgenossenschaft, wie unter ähnlichen Verhältnissen die Bergvölker in der Schweiz, doch ungleich später thaten. Alles Land von Aleria bis Calvi und bis Brando vereinigte sich zu einer freien Gemeinde und nahm den Titel Terra del Commune an, welcher ihm bis auf die jüngste Zeit geblieben ist. Die Einrichtung dieser Gemeine ging aus der natürlichen Einteilung des Landes hervor. Denn dieses wird durch sein Gebirgssystem in Täler gesondert, ähnlich einem Zellengewebe. In der Regel bilden alle in einem Tal stehenden Ortschaften einen kirchlichen Gemeindebezirk, welcher noch heute wie in ältesten Zeiten pieve (plebs) genannt wird. Jede pieve umfaßte eine gewisse Zahl von Communen oder Ortschaften (paese). Nun wählte zunächst jede Commune in ihrer Volksversammlung vor der Kirche einen Ortsvorstand oder podestà und zwei oder mehrere Väter der Gemeine (padri del commune), wahrscheinlich wie es später Regel war auf ein Jahr. Diese Väter sollten ihrem Begriff gemäß für das Wol der Communen sorgen, Frieden stiften und die Schwachen beschirmen. Sie traten zusammen und ernannten einen caporale, welcher die Befugniß eines Tribuns hatte und ausdrücklich dazu bestellt war, die Rechte des Volkes zu vertreten. Wiederum kamen die Podestà zusammen und erwählten die »Zwölfmänner,« den höchsten gesetzgebenden Rat des Landesbundes.

So dürftig auch diese Nachrichten über Sambucuccio und seine Einrichtungen sind, so geht doch daraus hervor, daß die Corsen schon in so früher Zeit und aus eigner Kraft ein demokratisches Gemeindewesen zu schaffen vermochten. Diese Keime bildeten sich unter allen Stürmen fort, veredelten die rohe Kraft einer eiferartig geschaffnen Nation, erzeugten eine beispiellose Vaterlandsliebe und heroischen Freiheitssinn, und machten es möglich, daß zu einer Zeit, wo die großen Culturvölker des Festlandes in despotischen Staatsformen gebannt lagen, Corsica die demokratische Verfassung des Pasquale Paoli erzeugen konnte, welche entstand ehe Nordamerika sich befreite und ehe Frankreich seine Revolution begann. Corsica hatte keine Sclaven, keine Leibeigene; jeder Corse war frei, mitbeteiligt am Leben des Volkes durch die Selbstregierung seiner Commune und die Landesversammlung – und das ist nebst dem Rechtsgefühl und der Vaterlandsliebe der Grund der politischen Freiheit überhaupt. Die Corsen besaßen, wie schon Diodor es gerühmt hat, Rechtsgefühl, aber die verworrenen Verhältnisse ihrer Insel und die Fremdherrschaft, welcher sie bei ihrer Lage und Zahl sich nie entziehen konnten, ließen das Volk nicht zum Glück gedeihen.


 << zurück weiter >>