Ferdinand Gregorovius
Corsica
Ferdinand Gregorovius

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Sechstes Kapitel.

Ein Meistersängerfest.

Die Poesie dieser Nacht sollte sich noch fortsetzen. Denn kaum war ich in meiner kleinen Locanda eingeschlafen, als mich Citerklänge und ein vielstimmiger Gesang weckten. Sie spielten und sangen wol eine Stunde lang in stiller Nacht vor meinem Hause. Es galt einem jungen Mädchen, welches dort wohnte. Die Serenata klang so traurig wie ein Vôcero. In stiller Nacht drangen diese psalmodischen Klänge mächtig in meine Seele. Die erste Stimme sang Solo, dann fiel die zweite und die dritte ein und der ganze Chor. Der Vortrag war Recitativ in Weise des italienischen Ritornello. Und auch im Ritornello wird ein an sich nicht trauriges Gefühl fast klagend gesungen. Ich hatte wol schon in andern Orten Corsica's solche Nachtgesänge gehört, doch nicht so voll und so feierlich wie hier. Ich vernehme noch oft ihr Echo, und namentlich ist es das eine Wort und der eine Klang: speranza, dessen klagender Ausdruck mir noch oftmals hörbar ist.

Am Morgen geriet ich durch Zufall in die Bude eines alten Schuhmachers, welcher sich mir als den Citerspieler von gestern Nacht zu erkennen gab. Bereitwillig langte er sein Instrument hervor. Die corsische Cetera hat sechszehn Saiten und fast die Form der Mandoline, nur daß sie größer und der Resonanzboden nicht ganz rund, sondern ein wenig abgeflacht ist. Die Saiten werden mit einem spitzen Widderhörnchen geschlagen. Ich fand also auch hier die allgemeine Erfahrung bestätigt, daß das Geschlecht der Schuster in aller Welt denkend, musikalisch und poetisch sei. Der Hans Sachs von Calvi holte auf meinen Wunsch einige der besten Sänger herbei. Schuhe und Leisten wurden in den Winkel gelegt, und die kleine Sängergesellschaft versammelte sich in dem Hinterstübchen, dessen blumenumranktes Fenster auf den Golf hinausging – die Musiker rückten die Stüle zusammen, der Meister nahm die Citer, drückte die Augen ein und schlug in vollen Tönen. Doch will ich sagen, wer die Sänger waren: vor allen der alte Schuster als Meistersänger, dann sein junger Geselle, der bei ihm Stiefeln und die holde Musica machen lernte, dann ein feingekleideter junger Mann, ein Herr vom Gericht, und endlich ein silbergrauer Greis von 74 Jahren. So alt er war, so sang er doch aus Herzenslust, wenn auch nicht ganz so wacker mehr als in seiner Jugend, und weil die Noten der corsischen Vôceri so langgedehnt sind, verlor er oft den Odem.

Nun hob das allerschönste Sängerfest an, das je gehalten worden ist. Sie sangen, was mein Herz begehrte, Serenaten und Vocerati oder Lamenti, aber zu meist Lamenti, weil mich deren Schönheit am meisten reizte. Sie sangen nach vielen andern auch einen Vôcero auf den Tod eines Soldaten. Der Inhalt war dieser. Ein junger Mensch aus den Bergen verläßt Mutter, Vater und Schwester und geht auf das Festland in den Krieg. Nach vielen Jahren kehrt er als Officier heim. Er steigt zu seinem Dorf hinauf; Niemand der Seinen erkennt ihn hier. Nur der Schwester entdeckt er sich, deren Freude unsäglich ist. Dann sagt er dem Vater und der Mutter, sie möchten auf Morgen ein herrliches Mal rüsten, er wolle es gut bezahlen. Abends nimmt er die Flinte und geht auf die Jagd. In seinem Zimmer hat er seinen Ranzen gelassen, in welchem viel Gold enthalten ist. Der Vater sieht den Reichtum und beschließt den Fremdling zu ermorden. Die schreckliche That wird vollbracht. Wie nun der Tag und der Mittag kommt und sich der Bruder nicht zeigen will, fragt die Schwester nach dem Fremdling; in der Angst ihres Herzens entdeckt sie den Eltern, daß es der Bruder sei. Sie stürzen in die Kammer, Vater, Mutter, Schwester – da liegt er in seinem Blut. Nun folgt das Lamento der Schwester. Die Geschichte ist wahr, wie überhaupt was die corsischen Volkslieder singen, ein wirkliches Ereigniß ist. Der Schuster erzählte mir die Begebenheit sehr dramatisch, und der Greis unterstützte ihn dabei mit den ausdrucksvollsten Geberden, dann ergriff jener die Citer und sie sangen das Lamento.

Die freundlichen Sänger, denen ich sagte, daß ich ihre Gesänge in meine heimische Sprache übersetzen und auch ihrer und dieser Stunde gedenken würde, baten mich noch diesen Abend in Calvi zu bleiben, da wollten sie die ganze Nacht versingen und mir Freude machen. Wenn ich aber durchaus fort wolle, so solle ich ja nach Zilia gehen, da seien die besten Sänger in ganz Corsica. Ach! sagte der Schuster, der allerbeste ist todt. Er sang wie ein Vogel mit heller Stimme, aber er ging in die Berge und wurde Bandit, und weil er so schön sang, so wehrten die Paesanen lange den Häschern, ihn zu fangen. Doch sie fingen ihn und in Corte haben sie ihm das Haupt herunter geschlagen.

So war mir denn Calvi eine Oase des Gesanges in diesen stillen und menschenarmen Gegenden. Mir war's nun auch merkwürdig, daß ein paar der besten Dichter Corsica's aus Calvi zu Hause gewesen sind, ein geistlicher Dichter Giovanni Baptista Agnese, geboren im Jahr 1611, und Vincenzo Giubega, welcher 39 Jahre alt im Jahre 1800 als Tribunalrichter in Ajaccio starb. Man nennt Giubega nicht mit Unrecht den Anacreon Corsica's. Ich las von ihm einige schöne Liebeslieder, welche sich durch Grazie der Empfindung auszeichnen. Es gibt nur wenige Lieder von ihm, da er die meisten selbst verbrannt hat. Weil Sophocles sagt, das Gedächtniß sei die Königin der Dinge, und weil auch die Muse der Poesie ein Kind der Mnemosine ist, so nenne ich hier noch einen einst weltberühmten Corsen aus Calvi, Giulio Guidi, im Jahre 1581 das Wunder Padua's wegen seines unglücklichen Gedächtnisses. Er war im Stande 36,000 Namen nach einmaligem Hören wiederzusagen. Man nannte ihn Guidi della gran memoria. Er schuf nichts, sein Gedächtniß hatte seine schöpferischen Kräfte getödtet. Pico von Mirandola, der ähnlich begabt war, starb jung. So ist's auch bei der köstlichen Gabe des Gedächtnisses, wie bei allen anderen Geschenken, ein Fluch der Götter, wenn sie zu viel geben.

Ich nannte schon einmal den Namen Salvatore Viale. Dieser Dichter, in Bastia zu Hause, wo er noch hochbetagt lebt, ist der fruchtbarste Poet, welchen die Insel hervorgebracht hat. Er hat ein komisches Gedicht »la Dinomachia« im Charakter der Secchia rapita des Tassoni geschrieben, den Anacreon übersetzt und auch Einiges von Byron übertragen. Byron also doch in Corsica! – Viale hat große Verdienste um sein Vaterland durch eine unermüdliche wissenschaftliche Thätigkeit, und auch um die Beleuchtung corsischer Sitten hat er sich Verdienste erworben. Auch einen Uebersetzer des Horaz hat Corsica, Giuseppe Ottaviano Savelli. Manchen Namen corsischer Poeten könnte ich noch nennen, wie den des Liederdichters Biadelli von Bastia, welcher im Jahre 1822 gestorben ist. Doch werden ihre Lieder nicht weiter in die Welt dringen. Die schönsten, welche Corsica hervorgebracht hat, sind die Gesänge des Volks, und der größte Dichter der Corsen ist der Schmerz.


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