Ferdinand Gregorovius
Corsica
Ferdinand Gregorovius

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Siebentes Kapitel.

Ein statistisches Kapitel.

Ich habe im Journal Bastia's vom 16. Juli 1852 die Statistik Corsica's nach der Berechnung des Jahrs 1851 gefunden und teile sie hier mit.

Corsica hatte im Jahr 1740 nur 120,380 Einwohner,
" " 1760 " 130,000 "
" " 1790 " 150,638 "
" " 1821 " 180,348 "
" " 1827 " 185,079 "
" " 1831 " 197,967 "
" " 1836 " 207,889 "
" " 1841 " 221,463 "
" " 1846 " 230,271 "
" " 1851 " 236,251 "

Nach den fünf Arrondissements kamen auf

Ajaccio 55,008
Bastia 20,288
Calvi 24,390
Corte 56,830
Sartene 29,735.

Corsica zerfällt in 61 Cantone, 355 Communen, 30,438 Häuser, 50,985 Haushaltungen.

{
Männliches Geschlecht {
{
Ledige
Verheiratete
Wittwer
75,543
36,715
5,680
}
} 117,938.
}
{
Weibliches Geschlecht {
{
Ledige
Verheiratete
Wittwen
68,229
36,916
13,168
}
} 118,313.
}

236,187 Einwohner sind römische Katholiken, 54 reformirte Christen. Franzosen durch Geburt, d. h. inbegriffen die Corsen, gibt es 231,653.

Naturalisirte Franzosen 353,
Deutsche 41,
Engländer 12,
Holländer 6,
Spanier 7,
Italiener 3806,
Polen 12,
Schweizer 85,
Andre Fremde 285.

An Kranken zählte man im Jahre 1851 2554 Personen, davon waren 435 auf beiden, 568 auf einem Auge blind, 344 taubstumm, 183 verrückt, 176 Klumpfüße.

Beschäftigung: 32,364 Männer und Weiber waren Ackereigentümer, 34,427 Tagelöhner, 6924 Dienstboten. Bauhandwerker (Maurer, Zimmerer, Schlosser, Maler &c.) 3194. Händler mit gewirkten Waaren und Schneider 4517. Händler mit Nahrungsmitteln 2981. Fuhrwerker 1623. Luxushändler (Uhrmacher, Goldschmiede, Graveure &c.) 55. Rentiers: Männer und Weiber 13,160. Staatsbeamte 1229. Communalbeamte 803. Militärs und Marinari 5627. Pharmacisten und Aerzte 311. Geistliche 955. Advocaten 200. Lehrer 635. Künstler 105. Litteraten 51. Liederliche Weiber 91. Vagabunden und Bettler 688. Kranke im Hospital 85. Eine und zwar die originellste Menschenclasse der Insel ist in dieser Aufzählung nicht bestimmt, ich meine die Hirten. Die Zahl der eigentlichen Banditen gibt man auf 200 an; ebensoviel corsische Banditen mögen in Sardinien flüchtig sein.

Ich gebe in Kürze das Nötige über die allgemeine Verwaltung Corsica's, damit man auch hierüber eine klare Vorstellung habe.

Seit dem Jahre 1811 bildet Corsica ein Departement. Ein Präfect, dessen Sitz Ajaccio ist, verwaltet dasselbe; für das Arrondissement Ajaccio versieht er zugleich die Stellung eines Unterpräfecten. Unter ihm stehen in den übrigen vier Arrondissements vier Unterpräfecten. Dem Präfecten steht zur Seite der Präfecturrat von drei Mitgliedern, welcher über die Reclamationen betreffs der Steuern, der öffentlichen Arbeiten, der Gemeinde- und Nationalgüter zu entscheiden hat. Den Vorsitz führt der Präfect, man appellirt an den Staatsrat.

Jedes Jahr versammelt sich in Ajaccio der General-Rat, dessen Mitglieder durch die Wähler eines jeden Cantons gewählt werden, um über öffentliche Angelegenheiten zu beraten. Seine Befugniß ist die Verteilung der directen Steuern unter die Arrondissements. Der General-Rat kann sich nur nach einem Aufruf des Staatsoberhauptes versammeln, welcher die Dauer der Sitzung bestimmt. Es gibt für jeden Canton einen Repräsentanten; also im Ganzen 61.

Jedes Arrondissement versammelt in seinem Hauptort einen Bezirks-Rat von so viel Mitgliedern, als es Cantons hat. Diejenigen Bürger, welche nach französischem Staatsgesetz berechtigte Wähler sind, haben auch das Recht zur legislativen Versammlung zu wählen. Es gibt etwa 50,000 berechtigte Wähler in Corsica.

Maires und Adjuncten, welche vom Präfecten ernannt werden, verwalten die Communen; dieses demokratische Recht ist dem Volk geblieben, daß es den Municipalrat erwählen darf, welcher dem Maire zur Seite steht.

Was die Gerichtsbarkeit anbetrifft, so steht das Departement unter dem Appellhof in Bastia, welcher besteht aus 1 Oberpräsidenten, 2 Kammerpräsidenten, 17 Räten, 1 Auditorrat, 1 General-Procurator, 2 General-Advokaten, 1 Substituten, 5 Greffiers.

Der Assisenhof hält seine Sitzungen in Bastia und besteht aus 3 Appell-Räten, dem General-Procurator und einem Greffier; die Sitzungen finden in der Regel alle Vierteljahre statt. Es gibt ein Tribunal erster Instanz in jedem Hauptort des Arrondissements; außerdem in jedem Canton einen Friedensrichter. In jeder Commune befindet sich ein Tribunal der einfachen Municipalpolizei, welches aus dem Maire und seinen Adjuncten besteht.

Die geistliche Verwaltung steht unter der Diöcese Ajaccio, dessen Bischof, der einzige Corsica's, Suffragan des Erzbischofs von Aix ist.

Corsica bildet die 17. Militärdivision Frankreichs. Ihr Generalquartier ist Bastia, wo der Divisionsgeneral seinen Sitz hat. Die Gendarmerie, für Corsica so wichtig, bildet die 17. Legion und steht ebenfalls in Bastia. Es gehören zu ihr vier Companien mit vier Chefs, 16 Leutnantschaften und 102 Brigaden.

Ich füge noch einiges über Landbau und industrielle Verhältnisse hinzu. Der Ackerbau, die Grundlage alles Nationalreichtums liegt in Corsica sehr im Argen. Das geht schon allein daraus hervor, daß die bebauten Länder der Insel heute nur ein weniges mehr als drei Zehntel ihrer Oberfläche betragen. Genau wird diese auf 874,741 Hectaren bestimmt. Die Fortschritte des Landbaues werden erschwert durch das Banditenwesen, die Familienkriege, die Communalländerei, durch den Mangel an Wegen, die große Entfernung der Aecker von den Wohnungen, durch die Ungesundheit der Luft auf den Ebenen, endlich durch die corsische Trägheit.

Weil der Ackerbau in Corsica darniederliegt, so ist auch die Industrie in dürftigem Zustande. Sie beschränkt sich auf die nächsten Bedürfnisse, die notwendigen Artikel des Handwerks und der Nahrung; die Weiber weben fast überall das braune, grobe Tuch (panno corso), welches man auch pelone nennt. Die Hirten bereiten den Käse und den Käsekuchen broccio. Im Golf von Porto Vecchio allein gibt es Salinen. Sardinen, Thunfische, Corallen werden an vielen Küsten gefischt, aber diese Fischerei wird nicht eifrig betrieben.

Der Handel ist ebenfalls gering. Man führt hauptsächlich Oel aus, wovon die Insel eine solche Menge besitzt, daß sie bei größerer Cultur allein für 60 Millionen Franken liefern könnte; ferner Limonen, Wein, Hülsenfrüchte, Castanien, frische und gesalzene Fische, Holz, Färbepflanzen, Häute, Corallen, Marmor, viel Fabriktabak, namentlich Cigarren, wofür das Blatt eingeführt wird. Eingeführt wird hauptsächlich: Getreide, Korn, Waizen, Reis, Zucker, Caffee, Vieh, Seide, Baumwolle, Lein, Leder, Eisenmineral und gegossenes Eisen, Ziegelsteine, Glas, Tongut.

Ausfuhr und Einfuhr stehn in einem schreienden Mißverhältniß zu einander. Die Douane drückt alle Manufactur und allen Handel nieder; sie verhindert die Fremden ihre Erzeugnisse für Landesproducte umzusetzen, daher müssen die Corsen das Zehnfache für ihre Gebrauchsartikel in Frankreich zahlen, während man selbst Wein aus der Provence ohne Zoll einführt und so die Weinproduktion der Insel herabdrückt. Selbst Mehl und Gemüse werden aus der Provence für die Truppen auf die Insel geschickt. Tabak auf das Festland auszuführen ist verboten. Das tyrannische Gesetz der Douane lastet schwer auf der armen Insel, und sie welche jährlich für drei Millionen Artikel aus Frankreich zu kaufen gezwungen ist, setzt an dieses selbst nur eine und eine halbe Million ab. An den Schatz zahlt Corsica jährlich eine Million und 150,000 Franken.

Der Haupthandel gehört den Häfen Bastia, Ajaccio, Isola Rossa und Bonifazio.

So traurig nun die Lage Corsica's im Ganzen ist, so schützt es wenigstens die geringe Bevölkerung vor der Geißel des Proletariats, welches in den großen Culturländern des Festlandes viel schrecklichere Leiden aufzuweisen hat, als jene des Banditenwesens und der Blutrache in Corsica sind.

Fünf und achtzig Jahre sind nunmehr, mit geringen Unterbrechungen, die Franzosen im Besitz der Insel, und weder ist es ihnen geglückt, die immer offne Wunde des corsischen Volkes zu heilen, noch haben sie mit allen Mitteln ihrer Cultur mehr für das Land gethan, als einige geringe Verbesserungen. Die Insel, welche Frankreich zweimal ihre Kaiser gegeben hat, hat davon nichts mehr gewonnen als die Sättigung ihrer Rache. Der Corse wird es nie vergessen, auf welche schmähliche Weise Frankreich sein Vaterland sich zu eigen machte, und niemals lernt ein tapferes Volk seine Bezwinger lieben. Wenn ich die Corsen noch heute Genua heftig schmähen hörte, sagte ich ihnen: laßt diese alte Republik ruhen; ein Corse, Napoleon, hat sie vernichtet – Frankreich hat euch betrogen und um eure Freiheit gebracht, ihr habt eure vendetta an Frankreich vollzogen, denn ihr schicktet ihm Napoleon, der es unterwarf – und auch heute ist dieses große Land eine corsische Eroberung und eure eigene Provinz.

Zwei Kaiser, zwei Corsen auf Frankreichs Tron mit despotischer Gewalt die französische Nation niederbeugend: nun, wenn eine ideelle Vorstellung den Wert des Wirklichen haben kann, so muß man sagen, niemals ist ein tapferes Volk glänzender an seinen Unterjochern gerächt worden. Der Name Napoleon ist das einzige Band, welches Corsika mit Frankreich zusammenhält; ohne dieses stünde es zu Frankreich nicht anders als andere eroberte Länder zu ihren fremden Herren. Ich habe bei vielen Schriftstellern die Versicherung gelesen, daß die corsische Nation im Grunde ihres Herzens französisch sei. Ich halte diese Versicherung für einen Irrtum oder eine absichtliche Unwahrheit. Nimmer habe ich mich davon überzeugt. Den Corsen und den Franzosen trennt eine tiefe Kluft der Abstammung, des innersten Wesens und Empfindens. Der Corse ist entschieden Italiener, seine Sprache ist anerkannt einer der reinsten Dialecte Italiens; seine Natur, sein Boden, seine Geschichte ketten noch den verlornen Sohn an das alte Mutterland. Die Franzosen selbst fühlen sich auf diesem Eiland fremd, und Soldaten wie Beamte betrachten ihren Dienst daselbst als eine »trostlose Verbannung auf die Ziegeninsel.«

Es gibt corsischen Patriotismus noch heute; ich sah ihn bisweilen hervorbrechen. Noch jetzt regt sich in den Corsen der Groll, welchen das Andenken an die Schlacht bei Ponte Nuovo erweckt. Als ich eines Tags über jenes Schlachtfeld fuhr, stieß mich ein neben mir sitzender Corse, ein Landmann, heftig an und rief mit leidenschaftlicher Geberde: »Dies ist der Ort wo die Genuesen unsere Freiheit ermordet haben, ich wollte sagen die Franzosen.« Man wird den Sinn verstehen, sobald man weiß, daß für den Corsen der Name Genuese so viel bedeutet als Todfeind, denn der Haß gegen Genua, so sagten mir die Corsen selbst, ist bei ihnen unsterblich. Ein andermal fragte ich einen Corsen, einen wolgebildeten Mann, ob er ein Italiener sei? Ja, sagte er, weil ich ein Corse bin. Ich verstand das Wort wol und reichte ihm die Hand. Dies nun sind Einzelheiten, Zufälligkeiten, aber oft wirft ein lebendiges Wort aus dem Munde des Volks ein helles Licht in seine Stimmung und enthüllt plötzlich die Wahrheit, welche nicht in den Büchern schreibender Beamten steht.

Ich habe es vielmal und in allen Teilen des Landes gehört: wir Corsen möchten mit Freuden italienisch sein, denn wir sind ja Italiener, wenn nur Italien einig und stark wäre; so wie es heute steht, sind wir französisch, denn wir brauchen eine große Macht, die uns aufhilft, da wir allein zu arm sind.

Die Regierung thut das Mögliche, um die italienische Sprache durch die französische zu verdrängen. Alle gebildeten Corsen sprechen französisch, und man sagt, gut; die Mode sucht, das Bedürfniß, die Aussicht auf Aemter nötigt vielen das Französische auf. Mit Bedauern stieß ich auch auf solche Corsen, es waren dies allemal junge Männer, welche offenbar aus Eitelkeit unter einander französisch sprachen. Ich konnte mich dann nicht enthalten, mich vor ihnen zu verwundern, daß sie ihre schöne Landessprache so leichtsinnig gegen die Sprache der Franzosen vertauschten. In den Städten spricht man viel französisch, aber das Volk redet nur italienisch, auch wenn es in der Schule oder durch den Verkehr das Französische erlernt hat. In das Innere und in die Berge ist die fremde Sprache gar nicht eingedrungen; da hat sich auch die Sitte der Väter, die Unschuld der Naturzustände, die Herzenseinfalt, die Gerechtigkeit, der Edelmut, die Freiheitsliebe unangetastet erhalten. Schlimm wäre es für das edle Volk der Corsen, wenn sie eines Tages die Tugenden ihrer rohen aber großen Väter gegen die raffinirten Sitten der pariser Gesellschaft vertauschten. Die ganze Geschichte der Corsen wurzelt in dem Naturgesetz der Unverletzlichkeit und Heiligkeit der Familie, und selbst ihre freie Verfassung, welche sie im Lauf der Zeit sich gaben und unter Paoli abschloßen, ist nur eine Entwicklung der Familie. Alle Tugenden der Corsen entspringen aus diesem Geist, sogar die Nachtseiten ihrer Gesellschaft, wie die Blutrache, gehören dieser gemeinsamen Wurzel an.

Wir blicken mit Schaudern auf den Bluträcher, der von den Bergen herabkommt, seines Feindes Sippschaft Glied für Glied zu erdolchen; doch kann dieser blutige Vampyr an Kraft, an Edelmut, Rechtsgefühl und Vaterlandsliebe immer noch ein Held gegen den blutlosen Schleicher sein, wie er in der großen Gesellschaft unserer Civilisation umhergeht und heimlich die Seelen seiner Mitmenschen aussaugt.


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