Hermann Melville
Omu
Hermann Melville

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierundsiebzigstes Kapitel

In Partuwei befindet sich eine der bestgebauten und hübschesten Kapellen der Südsee. Gleich dem Königspalast steht sie auf einem künstlichen Damm, der in Halbkreisform am Ufer der Bucht liegt. Die Kapelle selbst ist auf behauenen Korallenblöcken erbaut, die, an sich sehr bröcklig, an der Luft erhärten sollen. Mit den seltsamen fossilen Bildereindrücken, die sie von der Urzeit her tragen, sehen diese Blöcke merkwürdig aus. Beinahe weiß, wenn sie vom Riff gebrochen werden, dunkeln sie allmählich nach, so daß verschiedene Kirchen auf der Insel einen so düsteren und ehrwürdigen Eindruck machen wie die Paulskirche.

Die Kapelle ist ein Achteck, mit einer Galerie und mit Sitzplätzen für vielleicht vierhundert Personen. Das Innere ist rotbraun gestrichen und hat nur wenige Fensteröffnungen; im Halbdunkel sieht man Bänke und Galerie und die hohe gespenstische Kanzel.

Des Sonntags besuchten wir stets den Gottesdienst; wir erschienen höchst anständig im Familiengefolge Pao-Paos und wurden von allen älteren Personen im Ort vermutlich als musterhafte junge Leute angesehen. Pao-Pao hatte seinen Sitz in einer behaglichen Ecke an einem der Pfeiler aus Palmenholz, die die Galerie trugen; ich saß an den Pfeiler gelehnt, Pao-Pao und seine Frau neben mir, der Doktor und der elegante Sohn auf der anderen Seite, die Kinder und die armen Verwandten hinter uns. Lu blieb nicht bei den Ihren, sondern lief auf die Galerie, wo sie mit ein paar übermütigen Geschöpfen ihres Alters saß, die während der Predigt sich nur die Leute ansahen, mit Fingern zeigten und kicherten. Das allerdings machte Lu nicht mit.

In der Woche fand gelegentlich ein Nachmittags-Gottesdienst in der Kapelle statt, doch ist der Besuch gering. Der Missionar spricht ein Gebet, ein Kirchenlied wird gesungen, dann stehen die, die das Abendmahl nehmen wollen, auf und sprechen auf Taheitisch, mit wunderbaren Stimmen und Gebärden. Der Kirchenälteste Pao-Pao sprach sehr häufig und lange und man hörte ihm gerne zu, obwohl ich seine leidenschaftlichen Ausbrüche nicht verstehen konnte; wenn er seine Arme erhob, stampfte und wilde Blicke um sich warf, sah er wie ein Racheengel aus.

»Armer Mann!« seufzte der Doktor, »ich fürchte, seine Ansichten sind die eines Fanatikers.« Jedenfalls hörten alle auf Pao-Pao, während, wenn andere redeten, die einen schliefen, andere gähnten oder unruhig wurden; ein reizbarer alter Herr in einer Nachtmütze aus Kokosblättern griff sogar nach seinem langen Stock und verließ geräuschvoll die Kirche.

Dicht neben der Kapelle befindet sich ein sehr großes, schon etwas hinfälliges Gebäude mit Fenstern und Fensterläden und einem halb verfallenen Bretterboden, der von Palmenstämmen getragen wurde. Sie nannten es das Schulhaus; wir haben jedoch nie darin Schule halten sehen, wohl aber fanden dort Gerichtssitzungen statt. Unter anderem waren wir Zeugen eines Verfahrens gegen einen herabgekommenen Marineoffizier und ein vierzehnjähriges Mädchen, die sich zusammen sehr schlecht aufgeführt haben sollten. Der Ausländer war ein langer Mensch von militärischem Aussehen mit dunklen Wangen und schwarzem Backenbart. Wie er berichtete, war eine armierte Brigg, die er kommandiert hatte, an der Küste von Neuseeland gescheitert; seitdem hatte er auf den Inseln privatisiert. Der Doktor wollte wissen, warum er den Verlust nicht gemeldet hatte; Kapitän Crash, wie er sich nannte, gab lange Erklärungen dafür, aus denen wir nicht klug wurden. Vermutlich hatte er Gründe, ähnlichen Unterhaltungen mit dem Admiralitätsamt aus dem Wege zu gehen. Er war ein höchst zweideutiger Herr, der längere Zeit unerlaubten Handel mit französischen Weinen und Likören getrieben hatte, die er von den Kriegsschiffen, die nach Taheiti gekommen waren, herüberschmuggelte. Er hatte eine kleine Hütte und eine Laube in der Nähe des Landungsplatzes, in der sich, wenn keine Schiffe in Telu waren, gelegentlich ein Eingeborener betrank und, sich an den Kokosbäumen festhaltend, nach Hause wankte. An warmen Abenden konnte man den Kapitän selbst pfeiferauchend unter den Bäumen sehen. Belebt wurde seine Laube, wenn ein Schiff in die Bucht einfuhr; dann kehrten die Matrosen bei dem Kapitän ein und tranken, sangen und stritten nach Herzenslust.

Einmal machte die Mannschaft des »Leviathan« dabei einen solchen Lärm, daß die empörten Eingeborenen sich ein Herz faßten und hundert Mann stark über die Ruhestörer herfielen. Die Seeleute kämpften wie die Löwen, wurden aber zuletzt überwältigt und vor Gericht geschleppt; nach einem fürchterlichen Lärm wurden alle, bis auf Kapitän Crash als den Hauptschuldigen, wieder entlassen. Er war in Haft geblieben, bis das Schwurgericht zusammentrat, das für den Nachmittag erwartet wurde. In der Zwischenzeit, so kurz sie war, liefen – und zwar größtenteils von alten Weibern – eine Menge weiterer Anklagen gegen ihn ein, darunter auch eine wegen des kleinen Seitensprungs mit der erwähnten jungen Dame, In der Südsee ist es wie überall: wer einmal strauchelt, dem werden sämtliche Sünden, die er je begangen hat, vorgehalten.

Wir begaben uns ins Schulhaus, um dem Prozeß beizuwohnen und hörten den Lärm schon von weitem; im Haus war er geradezu betäubend. Es waren etwa fünfhundert Eingeborene da, die alle reden wollten. Der Vorsitzende, ein stattlicher, freundlich aussehender alter Mann, saß kreuzbeinig und resigniert auf einer kleinen Plattform; er war der erbliche Häuptling des Bezirks und lebenslänglich Richter in Partuwei. Es lagen mehrere Fälle vor; der des Kapitäns und des Mädchens kam zuerst an die Reihe. Sie bewegten sich frei in der Menge, und wer wollte, redete; es wäre schwer zu sagen gewesen, wann das eigentliche Verfahren begann; Zeugen wurden nicht vereidigt und eine regelrechte Geschworenenbank war nicht vorhanden. Hier und da sprang einer auf und schrie, vermutlich ein Zeuge, die anderen schwatzten indessen weiter. Endlich sprang der alte Richter selbst aufgeregt von seinem Sitz auf, lief unter die Leute und schrie gleichfalls. Das dauerte etwa zwanzig Minuten; zuletzt saß Kapitän Crash auf der Plattform des Vorsitzenden und sah gelassen auf das Toben, in dem sein Schicksal entschieden wurde. Beide, er und das Mädel, wurden schuldig gesprochen. Sie wurde verurteilt, sechs Matten für die Königin zu flechten, der Kapitän mit Rücksicht auf die Zahl seiner Vergehen für immer von der Insel verbannt. Der Spruch schien das Ergebnis der allgemeinen Meinung zu sein, aber zweifellos hatte der Vorsitzende darauf Einfluß genommen und jedenfalls hatte er dem Urteil zugestimmt. Die Strafen wurden auch nicht aufs Geratewohl verhängt. Die Missionare haben zur Erleichterung des Verfahrens eine Art Straftarif eingeführt: für Trinken soviel Tage Arbeit am Ginsterweg, für Gewehrstehlen soviel Faden Steinmauer usw. Die Sache ist ganz einfach: es wird ein Fall von Bigamie bewiesen; der Richter sieht unter B nach: Bigamie: vierzig Tage Ginsterweg und zwanzig Matten für die Königin. Er liest die Stelle vor und das Urteil ist gesprochen.

Nun kamen die anderen Fälle dran. Die Delinquenten, die alle schuldig gesprochen wurden, redeten nicht weniger als die anderen. So sonderbar das Verfahren schien, es entsprach dem rühmlichen englischen Grundsatz, daß jeder nur von seinesgleichen gerichtet werden darf.

 


 << zurück weiter >>