Hermann Melville
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Hermann Melville

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Zweiundsechzigstes Kapitel

Am vierten Tage des ersten Monats der Hegira oder der Flucht aus Tameh – denn dies war von nun an unsere Zeitrechnung – standen wir frisch und früh auf und hatten das Tal von Martehr hinter uns, noch ehe selbst die Fischer sich rührten. Der Morgen dämmerte eben am unteren Rande einer Schicht purpurfarbener Wolken, aus denen die dunstigen Bergspitzen von Taheiti ragten. Der tropische Tag schien zu matt, sich zu erheben. Von Zeit zu Zeit färbte er die Wolkenränder grau und rot, aber dieses zarte Licht schwand wieder, und alles lag im Trüben wie vorher. Endlich streute er dünne blasse Strahlen aus, die heller und heller wurden, bis zuletzt der goldene Morgen wie mit einem mächtigen Entschluß aus dem Osten aufsprang und seine leuchtenden Strahlen immer höher und höher nach allen Seiten über den Himmel sendete. Ein schwacher Luftzug kam, mit allen Düften aus den Hainen Taheitis beladen und von seinem Weg über die Wasser gekühlt, herüber; zu unseren Füßen lag der feuchte, weiche Strand, von dem die Wellen sich eben zurückgezogen hatten. Der Doktor war in seiner besten Laune; er legte seine Rura ab und stieg um sich spritzend ins Meer, schwamm ein paar Schritte, watete wieder zum Ufer zurück und hüpfte, tanzte und sprang den Weg entlang.

Was ist selbst die gepriesene Unabhängigkeit, die man im Sattel fühlt, gegen die erste Morgenfreude fröhlicher Fußgänger!?

Leichtherzig und sorgenfrei zogen wir unseres Weges. Wie wundervoll sind die Tropen für jeden Landstreicher, wie wir es waren, und für geldlose Leute überhaupt! In diesen üppigen Gebieten werden alle Bedürfnisse von selbst geringer, und die übrigen sind so leicht befriedigt: auf ein Dach, auf Brennholz und, wenn es sein muß, auch auf Kleidung kann man leicht und vollständig verzichten. Wie schlimm ist es dagegen in unseren harten nördlichen Breiten! Das Los eines armen Teufels zwanzig Grad nördlich vom Wendekreis des Krebses ist beklagenswert.

Aber der Strand wurde immer enger, und zuletzt reichte das Dickicht beinahe bis ans Meer. An Stelle des glatten Sandes war der Boden mit scharfem Korallenbruch bedeckt, der das Gehen höchst unangenehm machte. »Herrgott! mein Fuß!« brüllte der Doktor, und er holte das verletzte Glied, wie von einem elektrischen Schlag getroffen, behufs genauerer Untersuchung in die Höhe. Ein scharfer Splitter war ihm durch ein Loch im Stiefel ins Fleisch gedrungen. Meine Sandalen waren noch schlimmer; sie behielten gleichsam ein Tiefdruckbild von jedem Gegenstand, auf den ich trat.

Als der Strand eine scharfe Krümmung machte, kamen wir wieder auf offenen Grund. In der Ferne auf einem Hügel, dessen Abhang ins Wasser führte, stand ein Fischerhaus. Als wir näher kamen, sahen wir, daß es eben erst und höchst einfach gebaut war; die Bambusstäbe waren noch grün wie Gras und das Blätterdach neu und duftend wie frisch gemähtes Heu. An drei Seiten stand die Hütte offen; wir konnten also bequem hineinsehen. Niemand rührte sich darin, und wir sahen auch nichts als eine plumpe, alte Truhe, wie die Eingeborenen sie herstellen, ein paar Kalebassen und Tappabündel, die von einem Pfahl hingen, und in einer dunkeln Ecke einen Haufen, der noch nicht deutlich erkennbar war. Erst bei genauerer Untersuchung erwies er sich als ein liebevolles, altes Paar, das Arm in Arm, in einen Tappamantel eingerollt, schlief.

»Hallo! Philemon!« rief der Doktor, indem er den, der einen Bart trug, schüttelte. Aber Philemon hörte ihn nicht; dagegen fuhr Baucis, ein verrunzeltes, altes Geschöpf, in Schrecken auf und begann laut zu schreien. Da keiner von uns sie zu knebeln versuchte, beruhigte sie sich, und nachdem sie uns lange angestarrt und ein paar unverständliche Fragen gestellt hatte, versuchte sie ihren noch immer schlummernden Gatten zu wecken. Aber er war nicht zu wecken. Alles Knuffen, und Kneifen sowie alle Liebesworte der treuen Gattin waren vergeblich; er lag auf dem Rücken wie ein Klotz und schnarchte wie ein Kavallerietrompeter.

»Na, meine gute Frau,« sagte das lange Gespenst, »laßt mich einmal versuchen.« Damit faßte er den Schläfer an der Nase, zog ihn daran empor in sitzende Haltung und hielt ihn fest, bis er die Augen öffnete. Philemon sah verblüfft um sich, dann sprang er auf, zog sich in eine Ecke zurück und betrachtete uns ernst und ehrerbietig. »Gestatten Sie, mein lieber Philemon, daß ich Ihnen meinen hochgeschätzten Freund und Kameraden Paul vorstelle«, sagte der Doktor, mich mit höchster Eleganz und Grazie heranführend. Allmählich kam Philemon zu sich, und zu unserer Überraschung redete er sogar ein wenig englisch. Soweit wir ihn verstehen konnten, wollte er sagen, daß er bereits wisse, daß zwei »Karhauris« sich in der Nachbarschaft befänden, daß er sich freue, uns zu sehen, und uns sogleich etwas zu essen bereiten werde. Er war früher in Papiti gewesen, wo die Sprache der Eingeborenen überall mit den beliebtesten Seemannsausdrücken verbrämt ist, schien auch sehr stolz darauf zu sein und teilte es uns sogleich mit, wie ein Provinzler einem überall zu verstehen gibt, daß er seinerzeit in der Hauptstadt gewohnt hat. Er redete uns zuviel, so daß wir ihm scharf bedeuteten, er möge zunächst das Frühstück machen; dann wollten wir seine Geschichten hören. Höchst amüsant war es zu beobachten, wie liebevoll die beiden alten Halbwilden miteinander umgingen, während sie sich mit den Kalebassen beschäftigten. Offenbar sagten sie in ihrer Sprache beständig »ja, mein Lieb« und »nein, mein Leben«, wie es junge Paare tun.

Sie gaben uns auch ein ordentliches Essen und versicherten uns, als wir es lobten, immer wieder, daß sie nichts dafür verlangten; ja mehr, wir sollten nur bleiben, solange wir wollten, und solange wir blieben, wäre ihr Haus und alles, was sie hätten, nicht ihr Eigentum, sondern das unsere; sie selbst wären unsere Sklaven, und die alte Dame in einem Maße, das uns völlig überflüssig schien. Das ist taheitische Gastlichkeit. In Polynesien ist die Gastfreundschaft höchstes Gebot. Ein Eingeborener von Waierar, dem westlichen Teil Taheitis, kommt auf der Reise nach Partuwei, dem östlichsten Dorf von Imio: er ist dort völlig fremd, aber an allen Haustüren rufen die Bewohner ihm zu, bitten ihn, einzutreten und ihr Haus als das seine anzusehen. Der Reisende geht ruhig weiter, prüft jedes Haus, bis er vor einem stehenbleibt, das ihm gefällt, und mit den Worten »Ah, ina mehteh« (»dies scheint gut«) tritt er ein, wirft sich auf die Matten und bittet um eine junge Kokosnuß und um ein Stück gerösteter Brotfrucht, aber dünn geschnitten und gut gebräunt.

Wenn es sich aber dann später zeigt, daß dieser Fremde kein eigenes Haus hat, dann kann er nachher um einen Unterstand betteln gehen. Nur bei den »Karhauris«, den Weißen, wird eine Ausnahme gemacht. Es ist also genau, wie in den zivilisierten Ländern, wo diejenigen, die selbst Häuser und Landgüter haben, mit Einladungen überschüttet werden, während mancher andere anständige Mensch, der einen fadenscheinigen Rock trägt und dem die Einladung wirklich willkommen und wertvoll wäre, lange darum bitten kann. Zur Ehre der alten Taheitier muß ich sagen, daß diese Einschränkung ihrer Gastfreundschaft, wie Kapitän Bob mir sagte, in alten Zeiten unbekannt war und erst mit der neuen Verderbnis aufkam.

Es gilt in Polynesien für einen »Treffer«, wenn es einem Manne gelingt, in eine Familie zu heiraten, mit der der bessere Teil der Gemeinde verwandt ist (bei uns in Europa gibt es das natürlich nicht), denn dann stehen ihm, wenn er auf Reisen geht, um so mehr Häuser offen und um so vollkommener zur Verfügung.

Schließlich verabschiedeten wir uns von Philemon und Baucis, die uns mit ihrem väterlichen Segen entließen, und beschlossen, an der nächsten Stelle, die uns gefiel, wieder zu verweilen. Wir brauchten nicht lange zu suchen. Nach einer angenehmen Wanderung über den muschelbedeckten Strand kamen wir an weite Wiesen, die sich zum Wasser senkten; das Ufer war schilfbewachsen, auf den Wiesen standen Baumgruppen. In einer kleinen, korallenummauerten Bucht schaukelte eine Flotte von Kanus. Wenige Schritte davon entfernt, standen auf einer natürlichen Terrasse mehrere Eingeborenenhäuser mit neuen Dächern, die wie Sommerlauben durch die Blätter glänzten. Näherkommend, hörten wir ein Stimmengewirr, und jetzt erschienen drei fröhliche Mädchen, die von Lebenslust, Gesundheit und Jugend strahlten und voll heiteren Mutwillens waren. Die eine trug ein flatterndes Kattunkleid; ihr langes, schwarzes Haar hing in zwei prachtvollen Flechten, die an den Enden verschlungen und mit grünen Ranken umwunden waren. Aus ihrem freien und selbstbewußten Auftreten schloß ich, daß sie eine junge Dame aus Papiti sein mußte, die bei Verwandten auf dem Lande zu Besuch war. Ihre Begleiterinnen trugen nur winzige Baumwollröckchen und das Haar aufgelöst, und obschon auch sie sehr hübsch waren, waren sie doch zurückhaltend und verlegen, wie es Provinzlerinnen zu sein pflegen. Die zuerst genannte kleine Zigeunerin kam sehr herzlich auf mich zu, begrüßte mich auf taheitische Art und überschüttete mich derart mit Fragen, daß ich nichts davon verstand und noch weniger antworten konnte. Aber soviel war klar, daß wir in Luhulu, wie sie den Ort nannte, herzlich willkommen waren. Der Doktor bot jeder der beiden anderen jungen Damen galant den Arm; sie verstanden diese Höflichkeit zwar nicht, hielten es aber zuletzt für einen scherzhaften Einfall und nahmen es an. Die drei Fräulein stellten sich uns sogleich vor: mein Kamerad führte Farnowar, die Taggeborene, und Farnupu, die Nachtgeborene. Die mit den langen Flechten hieß Marhar-Rarar, die Wachsame oder die Helläugige.

Inzwischen erschienen auch die übrigen Hausbewohner, ein paar alte Männer und Frauen und mehrere stämmige junge Burschen, die sich die Augen rieben und gähnten. Alle drängten sich um uns und fragten, woher wir kämen. Als sie hörten, daß wir mit Zeke bekannt waren, zeigten sie sich hocherfreut; einer erkannte sogar die Stiefel, die der Doktor trug. »Kiki (Zeke) mehte,« riefen sie, »nui nui hanna poterto« (macht viele Kartoffeln).

Es gab nun einen kleinen freundlichen Streit, wer die Ehre haben sollte, uns zu bewirten. Endlich nahm ein hochgewachsener alter Herr namens Marharweh, mit kahlem Kopf und weißem Bart, uns bei der Hand und führte uns in sein Haus. Drinnen wies Marharweh mit seinem Stab auf seine ganze Habe und versicherte uns so oft, daß sein Haus das unsere sei, daß der Doktor zuletzt vorschlug, er möchte die Sache gleich notariell machen.

Es war gegen Mittag, und nach einem leichten Frühstück von gerösteter Brotfrucht, einigen Zügen aus der Pfeife und fröhlichem Geplauder mahnte unser Wirt an die Siesta. Wir folgten dem Rat, und alles legte sich schlafen.

 


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