Hermann Melville
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Hermann Melville

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Dreiunddreißigstes Kapitel

Wir waren noch nicht lange an Land, als wir Dr. Johnson auf der Ginsterstraße daherkommen sahen. Wir hatten schon gehört, daß er uns einen Besuch zudachte, und errieten den Grund. Da wir dem Konsul übergeben waren, mußten alle Auslagen für uns aus der amtlichen Kasse bezahlt werden, und, als Wilsons Freund der Bezahlung sicher, war der Herr Doktor nicht abgeneigt, eine Rechnung für ärztliche Besuche auflaufen zu lassen. Über die kleine Schwierigkeit, die darin lag, daß er auf dem Schiff erklärt hatte, wir hätten weder Behandlung noch Arznei nötig, und daß wir jetzt plötzlich beides brauchen sollten, setzte er sich entschlossen hinweg.

Einer der Späher kündete uns sein Nahen an, und es wurde der Vorschlag gemacht, daß wir ihn ruhig hereinlassen und dann im Stock festmachen sollten. Aber das lange Gespenst hatte einen besseren Einfall.

Dr. Johnson kam freundlich lächelnd, er war die Herzlichkeit selbst, stützte sich mit dem Rohrstock auf den oberen Balken des Stocks, blickte nach rechts und nach links, wie wir vor ihm lagen, und »Nun, meine Jungens,« begann er, »wie geht's euch heute?«

Alle sahen so still und bescheiden wie möglich drein und antworteten irgend etwas. Darauf fuhr er fort: »Die armen Kerle, die ich neulich gesehen habe, die Kranken, meine ich, wie befinden sie sich?« und er sah alle forschend an. Endlich wandte er sich an einen, der eine erbarmungswürdige Miene machte und meinte, er sähe wirklich sehr krank aus.

»Ach ja, Herr Doktor,« sagte der Matrose in kläglichem Ton, »ich fürchte mich, Herr Doktor, ich werde bald meine Meßnummer abgeben müssen.« Dabei schloß er die Augen und stöhnte.

»Was meint er?« fragte Dr. Johnson und sah sich nach en anderen um. Der Ausdruck bedeutet in der Seemannssprache sterben.

Schwindel-Jack machte den freiwilligen Dolmetscher. »Er meint, er wird bald abkratzen.«

»Abkratzen? und was heißt das, wenn man von einem Patienten spricht?« Man erklärte es ihm. »Ach so, ich verstehe«, sagte er, trat über den Stock und fühlte dem Mann den Puls. »Wie heißt er?« fragte er und wandte sich zum Marine-Bob.

»Wir nennen ihn den Klingel-Joss«, erwiderte dieser würdige Seemann.

»Ja, Leute, ihr müßt auf den armen Joseph gut acht haben. Ich werde ihm ein Pulver schicken, das er genau nach dem Rezept einnehmen muß. Jemand von euch wird doch lesen können?«

»Der junge Mensch da kann's«, erwiderte Bob, indem er mit dem Arm nach meinem Platz zeigte, als ob er auf ein Segel fern am Horizont weisen würde.

Nachdem Johnson alle anderen der Reihe nach untersucht hatte – einige waren wirklich krank, andere gaben vor, an den verschiedensten Übeln zu leiden –, drehte er sich um. »Leute,« sagte er, »wenn noch jemandem etwas fehlt, so müßt Ihr es sagen und mich wissen lassen, ich habe auf Anordnung des Konsuls euch täglich zu besuchen, und wenn einer von euch krank ist, so ist's meine Pflicht, ihm das Nötige zu verordnen. So ein plötzlicher Wechsel vom Schiffsessen zur Landdiät bekommt Seeleuten verteufelt schlecht. Seid also vorsichtig beim Obstessen. Guten Tag! Morgen frühzeitig schicke ich euch die Medizinen!«

Ich möchte annehmen, daß Johnson, obschon er nicht sehr gescheit war, doch ahnte, daß wir ihn verhöhnten. Aber das war ihm gleichgiltig, wenn er seinen Zweck erreichte; falls er uns durchschaute, verriet er es nicht. Am nächsten Morgen kam tatsächlich ein Eingeborener, der ein Körbchen aus Kokosnußstielen trug, in dem Pulver, Pillen-Schachteln und Fläschchen lagen. Auf jeder war der Name und die Verordnung in großer runder Schrift zu lesen. Alle griffen sogleich danach in der sonderbaren Erwartung, daß in einigen der Flaschen auch etwas Alkohol sein könnte. Aber schließlich wurde das Körbchen dem langen Doktor überlassen, der die Etiketten in seiner Eigenschaft als Arzt zu lesen verlangte. Das erste, was er ergriff, war eine größere Phiole, auf der stand: »für William; gut einreiben.«

Die Flasche roch zweifellos nach Weingeist, und sowie der Doktor sie dem Patienten reichte, wandte der sie sogleich innerlich an, und zwar die ganze Dosis auf einmal. Der Doktor war starr. Jetzt geriet alles in Erregung. Pulver und Pillen wurden für wertlos erklärt, während die glücklichen, die ein Fläschchen erhielten, beneidet wurden. Johnson mußte die Matrosen gekannt haben und hatte offenbar wenigstens einige seiner Heilmittel so zubereitet, daß sie ihnen schmecken konnten, wenigstens vermutete unser Doktor dies. Sicher ist, daß alle die Flaschen nahmen, ihr Inhalt mochte sein, wie er wollte; um die Vorschrift kümmerten sie sich nicht weiter, sie wurden sämtlich ausgetrunken. Auf der größten, – wirklich eine ganz gehörige Flasche, die auch annähernd wie Weinbrand, roch, – stand: »Für Daniel, ordentlich trinken, bis es ihm besser geht.« Dies tat der schwarze Daniel denn auch sogleich, und er würde sie auf einen Zug erledigt haben, wenn man ihm nicht nach hartem Kampf die Flasche entrissen hätte, die nun herumging wie ein fröhlicher Weinkrug. Die alte Teerjacke hatte geklagt, daß das Obstessen im Unmaß ihm nicht bekommen sei.

Als unser Arzt am nächsten Tag kam, fand er die ganze Reihe seiner kostbaren Patienten hinter dem Stock liegend; ihr Befinden war so, wie es den Umständen nach zu erwarten war. Es zeigte sich, daß die Pulver und Pillen gar nicht gewirkt hatten, vielleicht, weil keiner sie genommen hatte. Um sie wirksamer zu machen, schlug einer vor, in Zukunft eine Flasche Pisco mitzuschicken. Schwindel-Jack setzte dem Doktor auseinander, so ungemischt wären die Mittel viel zu trocken, man müsse etwas haben, sie hinunterzuspülen.

Bis dahin hatte unser eigener Doktor der gesamten Heilkunde, das Lange Gespenst, den ganzen Scherz zwar in die Wege geleitet, sich aber nicht daran beteiligt. Beim dritten Besuch Dr. Johnsons nahm er ihn beiseite und hatte eine längere Unterredung mit ihm. Was er ihm sagte, weiß ich nicht, aber aus gewissen sehr deutlichen Zeichen und Gebärden schloß ich, daß er ihm die Symptome einer geheimnisvollen inneren Störung schilderte, die ganz plötzlich bei ihm zum Ausbruch gekommen sein mußte. Da er die medizinischen Ausdrücke beherrschte, machte er offenbar Eindruck. Jedenfalls versprach Johnson laut, ihm zu schicken, was er wünschte.

Als der Medizinjunge am anderen Morgen kam, nahm der Doktor ein kleines Fläschchen in Empfang, das eine dunkle Flüssigkeit enthielt. Diesmal war sonst fast nichts mitgekommen, als eine Korbflasche mit dem Stärkungsmittel, das nach Weinbrand roch. Nach langer Debatte wurde darüber so entschieden, daß einer den Inhalt in kleineren Mengen in eine halbe Kokosschale goß, so daß jeder, der wollte, seinen Teil erhielt. Da weitere ärztliche Labung nicht vorhanden war, gingen die Leute ihrer Wege.

Ein oder zwei Stunden vergingen, als Schwindel-Jack die Aufmerksamkeit auf meinen langen Freund lenkte, der seit dem Fortgehen des Medizinjungen nichts von sich hatte hören lassen. Er lag mit geschlossenen Augen hinter dem Stock; Jack hob seinen Arm auf und ließ ihn wieder fallen wie den eines Toten. Ich brachte diese Erscheinung sogleich mit dem geheimnisvollen Fläschchen in Verbindung. Ich durchsuchte des Doktors Taschen, fand das Fläschchen, hielt es in die Höhe und sah, daß es Laudanum war. Schwindel-Jack riß es mir begeistert aus der Hand, sagte allen anderen, was es sei, und schlug allen ein fröhliches Schläfchen vor. Da ihn einige nicht gleich verstanden, so wurde das allem Anschein nach endgültig entschlafene Gespenst, das so still hielt, daß mir Zweifel an der Echtheit seines Schlafes kamen, umhergerollt, um zu zeigen, welche Wirkung das Mittel hatte. Das gefiel allen glänzend; sie warfen sich sogleich hin, und der Zaubertrank ging von Hand zu Hand. Da sie glaubten, daß sie im Augenblick die Besinnung verlieren müßten, ließ sich jeder, nachdem er seinen Schluck genommen, zurücksinken und schloß die Augen. Angst brauchten wir nicht zu haben, da wir das Narkotikum in so viele gleiche Teile geteilt hatten. Aber ich war doch neugierig zu sehen, wie es wirkte, und richtete mich nach einer Weile ein wenig auf und sah mich um. Es war gegen Mittag und alles still; da wir täglich Siesta hielten, war ich nicht sehr überrascht, alle so ruhig zu finden. Immerhin war mir, als ob einer oder der andere durch die Lider blinzelte.

Jetzt hallten Schritte, und ich sah Dr. Johnson kommen. Er schien nicht wenig betroffen, als er alle seine Patienten leblos hingestreckt sah, alle in tiefen, unerklärlichen Schlaf versenkt. »Daniel!« rief er schließlich, indem er dem Genannten den Rohrstock in die Rippen stieß. »Daniel, mein guter Bursch', steh' auf! Hörst du nicht?«

Aber der schwarze Daniel blieb unbeweglich, und der Doktor stieß den nächsten Schläfer an. »Josef, Josef, komm, wach' auf! Ich bin's, Dr. Johnson!« Aber der Klingel-Joss schlief mit offenem Mund und geschlossenen Augen und war nicht zu wecken. »Herr im Himmel!« rief der Doktor und hob Stock und Hände in die Höhe, »was haben die? Leute, Leute! Leute, sage ich!« brüllte er, auf und ab rennend, »bewegt euch doch! Was in aller Welt ist denn mit euch los?« und er schlug noch heftiger auf den Stock und schrie noch lauter. Endlich hielt er inne, faltete die Hände über seinem Stockknopf und betrachtete uns. Die Töne des Schnarchorchesters schlugen rhythmisch an sein Ohr, und es kam ihm ein Gedanke, »Ja, ja, die Halunken müssen sich einen angetrunken, haben. Nun, das geht ja mich nichts an; ich gehe!« Und er ging.

Kaum war er außer Hörweite, als fast alle aufsprangen, und in helles Gelächter ausbrachen. So wie ich hatten die meisten den ganzen Vorgang beobachtet. Auch das Lange Gespenst war jetzt völlig wach. Wozu er Laudanum genommen, – wenn er es getan, – mußte er am besten wissen; mich geht's nichts an.

 


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