Hermann Melville
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Hermann Melville

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Sechsundvierzigstes Kapitel

Am Tag, ehe die »Julia« aussegelte, machte Dr. Johnson uns den letzten Besuch. Er war an diesem Tage nicht so freundlich wie sonst und er wollte auch nur die Unterschrift der Leute auf einem Papier als Bestätigung, daß sie von ihm die verschiedenen, darauf verzeichneten Medikamente erhalten hatten. Auf Grund dieses Zeugnisses, auf das Kapitän Guy noch sein Indosso setzen sollte, erhielt er seine Bezahlung. Aber er würde die Handzeichen der Schiffsleute nicht bekommen haben, wenn der Doktor oder ich da gewesen wären. Mein langer Freund empfand keine Liebe für Herrn Johnson; im Gegenteil, er haßte ihn von ganzem Herzen und aus guten Gründen. Man soll aber nur den hassen, der es verdient; wirklicher Haß ist gleichsam eine Anerkennung zur linken Hand. Ich fühlte nur eine kühle gleichgültige Verachtung für den geldgierigen Apotheker und widersprach unserm langen Gespenst, wenn er sich über ihn aufhielt und ihm die ausgefallensten Schimpfnamen gab. Wenn der Kollege anwesend war, stellte er sich freundlich, um die Streiche in Gang zu halten, die ihm gespielt wurden. Er bedauerte, daß Johnson zuletzt doch Geld aus der Sache herausgeschlagen hatte, und »ich möchte wissen,« sagte er, »ob er jetzt, da er keine Bezahlung mehr erwarten kann, uns noch einen Besuch machen würde?«

Es war ein ganz merkwürdiger Zufall, daß der Doktor keine fünf Minuten, nachdem er dies gesprochen hatte, in einem unerklärlichen Anfall hinstürzte. Kapitän Bob, der gerade zugegen war, schickte sogleich einen Jungen, dem er die größte Eile gebot, zu Dr. Johnson. Wir trugen den Kranken indessen in die Calabusa, und die Eingeborenen, die sich rasch ansammelten, schlugen die verschiedensten Behandlungen vor. Einer dieser Naturärzte riet, den Patienten an den Schultern festzuhalten, während ein anderer ihn kräftig an den Beinen ziehen sollte. Diese Methode, die für Krampfanfälle empfohlen wurde, nannten sie »Poteta«; aber da ich unseren Freund bereits für lang genug hielt, lehnte ich weiteres Strecken ab.

Jetzt sahen wir auch bereits den Arzt in großer Eile den Ginsterweg entlang kommen. Er bedachte gar nicht, wie unklug es ist, in den Tropen zu eilen, und schwitzte heftig. Er schien also doch wärmerer Empfindungen fähig zu sein; aber es zeigte sich, daß es nur berufliche Wißbegier war, einen in seiner polynesischen Praxis ganz ungewöhnlichen Fall zu beobachten. Die Schiffsleute, die, obwohl sonst zu Scherzen aufgelegt, unter Umständen darauf bestehen, daß alles streng anständig zugeht, verlangten, daß ich mich neben dem langen Gespenst hinsetzen und alle Fragen beantworten sollte.

»Was ist los?« rief Johnson, als er ganz atemlos in die Calabusa trat, »wie ist das geschehen? Schnell!«

Ich berichtete ihm, wie der Anfall gekommen war.

»Merkwürdig,« sagte er, »sehr merkwürdig. – Der Puls ist ganz gut.« Er ließ die Hand des Patienten los und legte ihm die seine aufs Herz. »Aber was bedeutet der Schaum am Mund? – Und mein Gott! Seht das Abdomen!«

Aus der so bezeichneten Gegend tönte ein leises rollendes Geräusch und unter der Baumwolljacke war eine Art Wellenbewegung bemerkbar.

»Vielleicht Kolik, Herr Doktor?« fragte einer der Umstehenden.

»Unsinn!« brüllte der Doktor. »Wer hat je von Bewußtlosigkeit bei Kolik gehört?« Der Patient lag gerade und steif auf dem Rücken und gab außer dem geschilderten kein Lebenszeichen von sich. »Ich werde ihn zur Ader lassen,« rief Johnson, »lauft, einer von euch, um eine Kalebasse!«

»Leben ahoi!« sang der Marinebob aus, als ob er ein Segel erspäht hätte.

»Was mag nur mit ihm sein?« rief der Arzt. Denn der Mund des Patienten war plötzlich völlig schief geworden und blieb so.

»Vielleicht Veitstanz«, meinte Bob.

»Halten Sie die Kalebasse!« und er hatte die Lanzette bereit. Aber ehe er den Doktor anstechen konnte, bekam dessen Gesicht wieder seinen natürlichen Ausdruck; ein tiefer Seufzer folgte; die Augenlider zuckten, öffneten sich, schlossen sich wieder, und das lange Gespenst rollte in Zuckungen zur Seite und begann hörbar zu atmen. Mit der Zeit erholte er sich hinreichend, um sprechen zu können. Aber Johnson versuchte vergeblich, irgend etwas Zusammenhängendes von ihm zu erfahren; schließlich zog er sich enttäuscht zurück. Bald nach seinem Fortgehen setzte unser Doktor sich auf, und als wir ihn fragten, was ihm fehle, schüttelte er nur geheimnisvoll den Kopf und klagte, wie bitter es sei, an einem Ort krank zu werden, an dem so gar keine Pflege zu haben wäre. Damit erregte er das Mitleid unseres guten alten Wärters, der sich erbot, ihn nach einem Hause zu schicken, in dem er besser versorgt werden würde. Das lange Gespenst war einverstanden und wurde sogleich auf den Schultern von vier Eingeborenen in feierlicher Prozession fortgetragen.

Ich fühle mich nicht berufen, den Ohnmachtsanfall zu erklären; aber seine Zustimmung zu diesem Wohnungswechsel führten wir lediglich auf den Wunsch und die Hoffnung zurück, im Hause irgendeines gutmütigen Eingeborenen regelmäßigere Mahlzeiten zu erhalten; und wir beneideten ihn bereits alle, als er am nächsten Morgen in sehr schlechter Laune wieder bei uns eintraf.

»Hol's der Henker!« sagte er, »es geht mir nur noch schlechter. Gebt mir was zum Frühstück!« Wir ließen unseren geringen Vorrat an Schiffsproviant von einem Träger herab und reichten ihm einen Zwieback. Er kaute daran und erzählte: »Die Kerle trabten mit mir in ein Tal und brachten mich in eine Hütte, in der ein altes Weib allein wohnte. Das wird die Pflegerin sein, dachte ich, und bat sie, ein Schwein zu schlachten und zu backen, denn ich fühlte, daß mein Appetit wiederkam. ›Eita! Eita – oi mettih – mettih nui‹, sagte sie. ›Nein, nein, dich zu krank.‹ ›Der Teufel soll dich mit deinem mettih holen!‹ sagte ich, ›ich will was zu essen!‹ Aber nichts bekam ich. Es wurde schon Nacht und ich mußte bleiben. Ich kroch in eine Ecke und versuchte zu schlafen, aber die alte Person muß die Bräune haben; sie nieste und pustete die ganze Nacht, bis ich zuletzt aufsprang und sie packen wollte; sie humpelte davon wie ein Kobold und ich sah sie nicht mehr. Als die Sonne aufging, machte ich mich auf den Heimweg, und da bin ich.«

Er verließ uns nicht wieder und bekam auch keinen Anfall mehr.

 


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