Hermann Melville
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Hermann Melville

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Einundfünfzigstes Kapitel

Am Fuß des Berges führte ein stiller Pfad zwischen Felsen und Schründen aufwärts. Da und dort sah man in schwindelnde Tiefen. Wir gelangten schließlich auf einen überhängenden bewaldeten Absatz, an dem der beschattete Pfad wie eine Galerie entlanglief. Die Landschaft war wundervoll. Das Laub im Tal erzitterte in dem leise rauschenden Wind; in der Ferne lag blau und still das Meer, und landeinwärts erhob sich Kamm auf Kamm und türmte sich ein Gipfel über dem anderen auf, alle in den Dunstschleier der Tropen getaucht und nur wie in einem Traum zu sehen. Meilenfern lagen stille Täler im tiefen Schatten der Berge; Wasserfälle erhoben ihre Stimme in der Einsamkeit, und hoch über allen ragte in der Mitte das »Splißeisen« wie mit drohendem Finger. An den Bergabhängen sahen wir Rinder in kleinen Rudeln, die ruhig weideten oder langsam talwärts zogen.

Wir suchten einen Abhang zu gewinnen, an dem die nächsten Rinder sich befanden und der etwa ein oder zwei Meilen vor uns lag. Sorgsam hielten wir uns windwärts von den Tieren, denn ihr Geruch und Gehör sind, wie bei allen wilden Geschöpfen außerordentlich scharf; und da wir im Dickicht unversehens auch auf anderes Wild stoßen konnten, krochen wir vorsichtig weiter. Die wilden Schweine der Insel sind sehr bösartig, und da sie oft die Eingeborenen angreifen, folgte ich unwillkürlich Tonois Beispiel und warf von Zeit zu Zeit spähende Blicke unter das Laubwerk, sah auch häufig zurück, um sicher zu sein, daß uns der Rückzug nicht abgeschnitten wurde.

Wir umgingen gerade ein dichtes Gebüsch, als wir das Krachen trockener Zweige dahinter vernahmen. Schon hatte Tonoi einen Zweig gefaßt, bereit, sich emporzuschwingen, während Zeke den Finger am Drücker seines Gewehres hatte. Noch einmal hörten wir das gleiche Geräusch, und ich hob das Gewehr. »Aufgepaßt!« rief der Yankee, ließ sich auf ein Knie nieder und bog die Zweige zur Seite. Sein Gewehr krachte, und wild schnaubend schoß ein schwarzer Eber mit gesträubten Borsten, die kirschroten Lippen mit zwei glänzenden Hauern bewehrt, über den Weg und brach krachend durch das Dickicht auf der anderen Seite. Ich schickte ihm gleichfalls eine Kugel nach, der er keine Beachtung schenkte.

Inzwischen befand sich Tonoi, der erlauchte Nachkomme der Hohepriester von Imio, bereits zwanzig Fuß über dem Boden. »Erameh! Komm herunter, du alter Narr!« rief der Yankee, »das vertrackte Vieh ist ja schon auf der anderen Seite der Insel!«

»Ich glaube,« fuhr er fort, während wir beide frisch luden, »wir werden uns mit dem Feuern auf das verteufelte Schwein die ganze Jagd verdorben haben. Die Bullochsen drüben haben den Knall gehört und schmeißen ihren Schwanz in die Höhe und rennen. Schnell, Paul, wir wollen auf den Felsen dort klettern und schauen, ob was zu sehen ist.«

Aber nichts war zu sehen, außer daß die Rinder klein wie die Ameisen schienen. Da es Abend wurde, schlug Zeke vor, heimzukehren, um nach einer erfrischenden Nachtruhe am anderen Morgen mit der gesamten Macht zu einer tüchtigen Jagd für den ganzen Tag aufzubrechen.

Wir stiegen auf einem anderen Weg abwärts und kamen durch einen wundervollen Wald. Besonders eine Baumart fiel mir auf. Der dunkle moosbewachsene Stamm war über siebzig Fuß hoch; aber erst in einer Höhe von mehreren Fuß über dem Boden sandte er mächtige Äste mit glänzenden tiefgrünen Blättern aus. Weiter unten ragten rund um den Stamm nach allen Richtungen dünne, flache, pfeilerartige Rindenauswüchse, die völlig glatt um mindestens zwei Ellen vorsprangen. Nach oben verdünnten sich diese natürlichen Stützen, bis sie allmählich in den Stamm verliefen. Man konnte merken, daß die wilden Tiere hinter ihnen Schutz gesucht hatten. Zeke nannte den Baum den Kanubaum, da er in alten Zeiten das Holz für die Kriegsflotte der Könige von Taheiti lieferte. Es wird noch jetzt für Kanus gebraucht, denn es ist äußerst fest, so daß die Würmer es nicht angreifen können, und daher sehr dauerhaft.

Als wir etwa auf halbem Wege den Berg hinab aus dem Walde kamen, gelangten wir zu einer Lichtung, die mit Gras und Farnkräutern bewachsen war, und über die einige wenige einsame Bäume in der sinkenden Sonne lange Schatten warfen. Eine Fläche von etwa hundert Quadratfuß war von einer verfallenen Steinmauer umgeben; im Innern wuchsen Sträucher und Unkraut. Tonoi sagte, es sei ein sehr alter, fast vergessener Begräbnisplatz, auf dem niemand mehr beigesetzt worden war, seitdem die Eingeborenen das Christentum angenommen hatten. In trockenen tiefen Gewölben verschlossen lagen viele tote Heiden. Gern hätte ich die Worte des Alten nachgeprüft und einen Blick in die Katakomben getan, aber sie waren so dicht überwachsen, daß keine Öffnung zu entdecken war.

Ehe wir den Talboden erreichten, kamen wir an einem lang verlassenen Dorf vorbei, das an einem Wasserlauf lag. Nichts war übrig als Steinmauern und steinerner Untergrund, auf dem einst Häuser gestanden; mächtige Bäume und dichtes Gesträuch wuchs wild dazwischen. Ich fragte Tonoi, seit wann hier niemand mehr wohnte. »Mich tammarih (Junge) – viele Kannaka Martehr,« erwiderte er, »jetzt nur arme pehi kannaka (Fischer) übrig – mich geboren hier.«

Die Vegetation im Tal war von der im Hochland sehr verschieden. Der prächtigste Baum in den ebenen Teilen der Insel ist der »Eti«, groß und breit, mit mächtigem Stamm und breiten, lorbeerartigen Blättern. Er hat ein herrliches Holz. In Taheiti hatte man mir ein schmales poliertes Stück gezeigt, aus dem man ein Schränkchen für einen König hätte machen können. Es war aus dem innersten Kernholz ausgesägt, tief scharlachrot, von gelben Adern durchzogen, an manchen Stellen haselnußfarben gewölkt. In demselben Hain wächst neben dem königlichen Eti der wundervoll blühende »Hotu«, eine Pyramide von glänzenden Blättern, die mit zahllosen kleinen, weißen Blüten abwechseln. Aber von all den Bäumen des Tals hatten nur wenige für die Eingeborenen Nutzen; nicht einer von hundert war ein Kokosnuß- oder Brotfruchtbaum. Auch das erklärte mir Tonoi: in den blutigen Religionskämpfen, die auf die Bekehrung des ersten Pomari folgten, hatte Kriegsvolk aus Taheiti ganze Wälder der unschätzbaren Bäume vernichtet, indem sie Gürtelstreifen aus der Rinde schnitten: nach kurzer Zeit standen die Bäume abgestorben und laublos in der Sonne, traurige Denkmale des Schicksals, das die Eingeborenen des Tales traf.

 


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