Hermann Melville
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Hermann Melville

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Neunundzwanzigstes Kapitel

Etwa eine Meile vom Dorfe machten wir in einer herrlichen Gegend halt. Ein Bergbach strömte am Fuß eines grünen Abhangs; auf der einen Seite floß er murmelnd weiter bis zu dem mit glitzernden Muscheln besetzten Strand hinab; dort verbreiterte er sich und rieselte ins Meer. Auf der anderen Seite war eine lange enge Schlucht, und das Auge konnte dem gewundenen, blitzenden Faden folgen, bis er sich im dunkeln Grün verlor. An der Straße führte eine niedrige Brustwehr aus rauhen Steinen hin, und auf der Höhe des Abhangs, den die Brustwehr umgab, lag ein großes eiförmiges Eingeborenenhaus mit weißglänzendem Dach.

»Calabusa! Calabusa Biriteni!« (Das britische Gefängnis!) rief unser Führer, auf das Gebäude weisend.

Da der Konsul es in den letzten Monaten zum Zwangsaufenthalt für widerspenstige Matrosen benützt hatte, ward es so genannt, um es von ähnlichen Orten in Papiti sowie in der Umgegend zu unterscheiden. So romantisch es aussah, bei näherer Bekanntschaft vermißte man häuslichen Komfort. Es war nichts als ein Gerüst mit einem Dach, ein ganz unfertiges Haus, das nach allen Seiten offen stand, und im Innern wuchs an vielen Stellen Gras. Auch befand sich darin nur ein einziges Möbel, der »Stock«, ein plumpes Werkzeug, das dazu diente, Leute festzuhalten, und das es in den meisten Ländern nicht mehr gibt. Bei den Spaniern Südamerikas ist es noch im Gebrauch, und von ihnen haben es die Taheitier, wie es scheint, übernommen, auch den Namen, der alle Gefängnisse bei ihnen bezeichnet. Der Stock bestand lediglich aus zwei genau gleichen Balken von etwa zwanzig Fuß Länge, der eine lag auf der Kante, der andere genau über ihm, und in regelmäßigen Zwischenräumen waren runde Löcher angebracht – ein Halbrund in jedem Balken –, deren Zweck auf den ersten Blick erkennbar war.

Unser Führer hatte uns inzwischen darüber belehrt, daß er »Käpen Bob« (Kapitän Bob) hieß; und er war ein ganz netter alter Kerl. Er konnte gar nicht anders heißen. Der alte Mann gefiel uns vom ersten Augenblick an so gut, daß wir uns seiner Autorität fröhlich fügten. Sowie wir im Hause waren, hieß er uns zunächst Haufen trockenen Laubes sammeln, um hinter dem Stock ein Lager zu bereiten; dann wurde ein Kokosstamm als Polster hingelegt, ein hartes Kissen, aber die Eingeborenen sind daran gewöhnt. Sie gebrauchen einen kleinen Holzklotz als Kopfkissen, der auf kurzen Füßen steht und oben eine runde Vertiefung trägt, eine Art Kopfschemel.

Als alles soweit bereit war, ging Kapitän Bob daran, uns für die Nacht zu »henapar« – anzuschließen. Der obere Balken wurde bei dem einen Ende aufgehoben, wir mußten unsere Knöchel in die halbkreisförmige Öffnung des unteren legen, der obere wurde wieder gesenkt und beide durch alte Eisenhaken an den Enden zusammengeschlossen. Der ganze Vorgang vollzog sich unter lärmender Heiterkeit der Eingeborenen, und auch wir ließen es an lustigen Bemerkungen nicht fehlen. Kapitän Bob war noch geschäftig wie eine alte Frau, die ihre Kinder zu Bette bringt. Ein Korb gebackenen Teros oder indischer Rübe wurde gebracht, und jeder erhielt ein Stück. Dann wurde eine große Decke aus grobem Tappa über unsere ganze Gesellschaft gebreitet, und nach vielen Ermahnungen, daß wir »moi-moi« und »mehteh« sein, das heißt, schlafen und brav sein sollten, blieben wir uns selbst überlassen.

Nun wurde noch lange über die Aussichten auf die Zukunft geschwatzt; aber der Doktor und ich verhielten uns schweigend. Wir lagen nebeneinander; die anderen hörten auch auf, sie waren noch müde von schlechten Nächten an Bord der »Fregatte« und lagen bald in tiefem Schlaf.

Ich glitt aus einer Träumerei in die andere, fuhr empor und faßte den Doktor an. Er träumte bereits, und ich beschloß, das gleiche zu tun. Wie es die anderen anstellten, weiß ich nicht: ich fand den Schlaf nicht leicht; das Bewußtsein, an einem Fuß gefesselt zu sein, und die Unmöglichkeit, ihn an irgendeine andere Stelle zu bringen, war keineswegs angenehm. Man konnte nur gerade auf dem Rücken liegen, und wenn ich einschlief, bekam ich Alpdrücken schon infolge der unbequemen Lage; im Traum riß ich so heftig an meinem unglücklichen Fuß, daß ich erwachte; ich glaubte, jemand zöge den Stock fort.

Kapitän Bob und seine Freunde wohnten in einem kleinen Flecken in nächster Nähe, und als der Morgen im Osten dämmerte, sahen wir den alten Herrn aus einem Hain kommen, der in gleicher Richtung lag. Er begrüßte uns mit lauter Stimme, und da er alle wach fand, befreite er uns, führte uns zum Bach hinab und befahl, daß alle sich ausziehen und baden sollten. »Alli Manni klar, mei Jungi, henna, henna!« (waschen!) rief er, denn Bob war ein Sprachgelehrter und auf See gewesen, wie er uns noch oft erzählte.

Wir waren allein mit ihm, und nichts wäre leichter gewesen, als durchzubrennen; aber der Gedanke, daß so etwas möglich sei, kam ihm offenbar gar nicht; er ging auch so offen und freundlich mit uns um, daß, wenn wir selbst ans Davonlaufen gedacht hätten, wir uns geschämt hätten, es zu versuchen. Er wußte übrigens, und wir kamen sehr bald gleichfalls dahinter, daß jeder Fluchtversuch fehlschlagen mußte, wenn man es nicht so einrichten konnte, daß man sogleich auch die Insel verließ.

Bob war überhaupt ein ungewöhnlicher Bursche. Schon seine äußere Erscheinung war auffallend. Er war ein dicker Riese, über sechs Fuß hoch und hatte einen Umfang wie eine Tonne. Die ungeheure Körpergröße mancher Taheitier ist vielen Reisenden aufgefallen. Abgesehen von seiner Stellung als Gefängnisdirektor des englischen Konsuls, trieb er Landwirtschaft nach der auf der Insel üblichen Weise: er besaß ein paar Brotfrucht- und Kokos-Haine, die er im Wachstum nicht hinderte; dicht daneben lag ein Tero-Feld, das ihm gehörte und das er manchmal besichtigte. Bob verkaufte die Produkte seines Bodens nur höchst selten; er brauchte sie für sich selbst. Drei Ratsherren bei einem Bürgermeisteressen wären ihm an Appetit nicht gewachsen gewesen. Ein Freund Bobs sagte mir, daß seine Besuche infolge seiner Gefräßigkeit sehr gefürchtet seien. Nach taheitischem Brauch, von dem niemand abgehen kann, herrscht allenthalben die freieste Gastfreundschaft. Zwar ist sie fast immer gegenseitig, aber bei Bob war das ausgeschlossen: der Schaden, den er bei einem Morgenbesuch in der Speisekammer seines Wirts anrichtete, wäre durch einen ganzen Ferienaufenthalt des anderen bei ihm nicht ausgeglichen worden.

Der Alte hatte tatsächlich ein oder zwei Fahrten auf einem Walfischfänger mitgemacht und war stolz auf sein Englisch; da er, was er davon wußte, im Vorderkastell aufgelesen hatte, so kannte er nur Seemannsausdrücke, und die klangen in seinem Munde drollig genug.

Eines Tages fragte ich ihn, wie alt er sei. »Ali?« rief er mit tiefsinnigem Ausdruck, der Tiefe meiner Frage entsprechend, »oh, sehr ali, dausen 'Ahr – mehr – große Mann, wenn Käpen Tuti (Cook) in Sitt komi.« (In Sicht kommen.)

Das war natürlich unmöglich, aber ich richtete meine Rede nach dem Mann und antwortete: »Ah, du sehen Käpen Tuti – nun, wie du lieben ihn?«

»Oh, er mehteh (gut): Freund von mick und kenni mei Weib!«

Als ich ihm ernsthaft versicherte, daß er damals noch nicht geboren sein konnte, erklärte er, daß er die ganze Zeit von seinem Vater gesprochen habe, und das war ganz gut möglich. Sonderbarerweise erzählen alle diese Leute, jung und alt, daß sie die persönliche Bekanntschaft des großen Seefahrers gemacht hätten, und wenn man ihnen zuhört, erzählen sie Anekdoten ohne Ende von ihm. Und das nur aus dem Wunsch, liebenswürdig zu sein; sie wissen, daß es für die weißen Männer kein angenehmeres Gesprächsthema gibt. Für Zeit und Möglichkeit haben sie gar keinen Sinn, Tage und Jahre zählen für sie gleich.

Nachdem wir bei Sonnenaufgang unser Bad genommen hatten, machte Bob uns wieder in dem Stock fest. Er vergoß beinahe Tränen darüber, daß er so hart gegen uns verfahren mußte, aber er könnte nicht anders, sagte er, sonst würde der Konsul böse werden. Wie lange wir hier im Gefängnis bleiben, noch was nachher mit uns geschehen sollte, wußte er nicht.

Als es Mittag wurde und keine Anzeichen einer Mahlzeit zu bemerken waren, fragte einer von uns, ob wir im Hotel Calabusa nur Wohnung oder auch volle Pension hätten.

»Ganespili fest!« (Gangspill fest) sagte Bob, »kaukau (essen) kommi Schiffi mit Zeit.« Und tatsächlich kam Tauendchen mit einem Holzeimer, der mit dem schändlichen Zwieback der »Julia« gefüllt war. Grinsend sagte er, es wäre ein freundliches Geschenk von Herrn Wilson, und wir würden an diesem Tage sonst nichts bekommen. Jetzt tobten alle, und es war ein Glück für den Kerl, daß er ein paar Beine hatte und die Leute die ihren nicht gebrauchen konnten. Samt und sonders beschlossen wir, das Hartbrot nicht anzurühren, mochte geschehen, was da wollte. Wir sagten das auch den Eingeborenen; die aber lieben nichts so wie Schiffszwieback; je härter desto besser; sie waren daher überglücklich und boten uns dafür täglich ein bestimmtes, nicht sehr großes Maß gebackener Brotfrucht und indischer Rüben zum Tausch. Das wurde abgemacht, und von da an wurde, sobald der Eimer kam, der Inhalt sofort Bob und seinen Freunden abgeliefert, die bis zum späten Abend daran knabberten.

Als unsere recht spärliche Brotfruchtmahlzeit zu Ende war, kam Käpen Bob zu uns gewatschelt; er trug ein paar lange, oben gekrümmte Stangen und mehrere große Körbe, die aus Kokoszweigen geflochten waren. Nicht weit von uns befand sich ein ausgedehnter Orangenhain, der reife Früchte in Menge trug; ich und noch einer wurden ausgewählt, mit Bob zu gehen und Vorrat zu holen. Noch nie hatten wir einen so üppigen Obstgarten gesehen; schon der Duft, der von jedem Zweig strömte, wenn er sich nur ein wenig im Winde bewegte, labte die Sinne. So dicht standen die Bäume, daß ihre Zweige eine Art Kreuzgewölbe bildeten, das ganz mit goldenen Kugeln besetzt war; darunter lag alles in tiefem Schatten; an manchen Stellen bogen die Zweige sich unter ihrer Last bis zum Boden, und das Laub war so dicht, daß man den Stamm nicht sah. Tiefer im Hain sahen wir nur Orangen und wieder Orangen ringsum und nichts sonst. Um die Früchte nicht zu beschädigen, faßte Bob die Zweige mit dem gebogenen Ende seines Stabs und streifte die Orangen in den Korb; wir aber hatten nicht soviel Geduld: wir faßten den Zweig und schüttelten solch einen Regen von Früchten herab, daß unser alter Freund flüchtete; wir hörten auf keine Vorstellung, sondern legten uns in den Schatten und aßen nach Herzenslust. Dann füllten wir den Korb, daß die Früchte hoch angehäuft lagen, und kehrten zu unseren Kameraden zurück, die uns mit frohen Rufen empfingen; und in unglaublich kurzer Zeit waren nur noch die Schalen übrig. Solange wir in der Calabusa wohnten, hatten wir Früchte, soviel wir wollten; darauf, vielleicht aber auch auf andere Gründe, war vermutlich die rasche Wiederherstellung der Kranken zurückzuführen, die bald alle verhältnismäßig wohl waren.

Die Orangen von Taheiti sind köstlich, klein und süß, mit dünner trockener Schale. Vor Cooks Zeit waren sie unbekannt, ihm verdanken die Eingeborenen diese Wohltat. Er führte auch andere Früchte ein, Feigen, Ananas und Zitronen; aber man sieht sie nicht häufig; nur die Limonen wachsen noch in großer Zahl, und die ärmeren Eingeborenen pressen ihren Saft aus, um ihn den Schiffern zu verkaufen. Er wird als Mittel gegen Skorbut sehr geschätzt. Und nicht nur ausländische Früchte und Gemüse verdanken die Gesellschaftsinseln ihren ersten Besuchern; auch Rindvieh und Schafe wurden an verschiedenen Orten zurückgelassen. Darüber wird noch mehr zu sagen sein, und nach allem, was in späteren Jahren für die Insel geschah, kann man Cook und Vancouver in diesem Sinn zum mindesten als ihre größten Wohltäter ansehen.

 


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