Hermann Melville
Omu
Hermann Melville

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel

Dem Befehl wurde sogleich Folge geleistet; die Leute traten an und standen in einer Reihe, dem Konsul gegenüber. Es war eine wilde Gesellschaft, Männer aus allen Zonen, nicht eben korrekt gekleidet, aber malerisch in ihren Lumpen. Auch der lange Doktor stand darunter, hatte aber sorgfältigere Toilette gemacht. Vielleicht hoffte er die Sympathien des Konsuls für einen Mann aus den besseren Ständen, der Unglück gehabt hatte, zu gewinnen. Er sah aus wie ein Kranich, der unter eine Schar von Sturmvögeln geraten ist.

Am auffälligsten sah das unglückliche Tauendchen aus. Seine Seeausstattung hatte man ihm, als einer Landratte, längst abgenommen; er kleidete sich, wie es eben ging, und so trug er das auf See unmöglichste Kleidungsstück, das sich denken ließ: einen alten Frack, der dem Kapitän gehört und den er seinerzeit als Steward getragen hatte. Zehnmal am Tag rissen ihn die Leute ihm vom Leibe, und immer zog er ihn wieder an.

Der Steuermann stand neben Wilson, barhaupt, die grauen Locken um die bronzefarbene Stirn geringelt, sein scharfer Blick glitt die Reihe entlang. Seine Jacke stand offen und hing lose herab und ließ den kräftigen Hals, die behaarte Brust sehen und die kurzen, nervigen Arme, die die Spuren vieler Faustkämpfe und manche seltsame Zeichnung in chinesischer Tusche zeigten.

Unter bedeutungsvollem Schweigen faltete der Konsul seine Papiere auseinander; er war sichtlich bemüht, uns durch eine wichtige Miene und großartige Haltung zu imponieren. »Herr Jermin, rufen Sie die Namen auf!« sagte er, und reichte ihm die Mannschaftsliste.

Alle antworteten »hier«, mit Ausnahme der Deserteure und der zwei, die am Grunde des Meeres lagen.

Wir erwarteten nun, daß er unser Schreiben vornehmen und etwas darüber sagen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Es war uns zwar, als hätten wir dieses merkwürdige Dokument unter den Papieren des Konsuls gesehen, er erwähnte es jedoch mit keinem Wort; die Leute, die sich Wunder was davon versprochen hatten, kamen dadurch in eine gereizte Stimmung.

»Nun, Leute,« begann Wilson wieder nach einer kurzen Pause, »ihr seht zwar alle recht munter aus; dennoch sollen, wie ich höre, Kranke unter euch sein. Rufen Sie also die Namen auf der Krankenliste da auf, Herr Jermin; die Aufgerufenen treten auf die andere Seite des Verdecks, ich möchte sie sehen.«

Als wir alle hinübergegangen waren, sagte er: »So, ihr also seid die kranken Kerls, hm! Gut, ihr werdet untersucht werden. Ihr geht jetzt, einer nach dem anderen, in die Kajüte zu Dr. Johnson, der mir über jeden einzelnen Fall berichten wird. Die im Sterben sind, werden an Land gebracht werden, für die anderen wird alles Nötige besorgt werden, und sie bleiben an Bord.«

Erstaunt und betroffen sahen wir einander an: wer mochte im Sterben sein? Jeder blieb lieber an Bord und wurde gesund, als daß er an Land gegangen wäre, um sich begraben zu lassen. Einige aber sahen sehr wohl, was der Konsul bezweckte, und handelten demgemäß. Ich für mein Teil war entschlossen, so sterbenskrank als möglich auszusehn; ich hoffte daraufhin ans Land geschickt zu werden und so ohne weitere Verwicklungen vom Schiff loszukommen.

Ich beschloß, mich daher auch an nichts zu beteiligen, solange mein Fall nicht entschieden war. Auch der Doktor hatte schon die ganze Zeit vorgegeben, mehr oder minder leidend zu sein, und aus einem Blick, den er mir zuwarf, erkannte ich, daß sein Zustand sich rasch verschlimmerte.

Nachdem über die Maroden in dieser Weise verfügt und einer auch bereits nach unten gegangen war, um sich untersuchen zu lassen, wandte der Konsul sich zu den anderen und redete sie folgendermaßen an: »Leute, ich werde nun zwei oder drei Fragen an euch richten; einer von euch soll ja oder nein antworten, die anderen haben zu schweigen. Also zunächst: Habt ihr eine Klage gegen euern Steuermann, Herrn Jermin?« Und er sah die Matrosen der Reihe nach scharf an, und da alle den Bottler ansahen, richtete auch er schließlich seine Blicke auf ihn.

»Je nun, Herr,« stotterte Spund, »gegen Herrn Jermins Seebefahrenheit haben wir nichts zu sagen, aber . . .«

»Ich wünsche keine Aber zu hören,« unterbrach ihn der Konsul, »antworten Sie ja oder nein, haben Sie etwas gegen Herrn Jermin vorzubringen?«

»Ich wollte nur sagen, Herr, Herr Jermin ist ein ganz braver Mann, aber doch . . .« Der Steuermann schoß Blicke wie Splißeisen auf Spund, den Bottler, der noch ein paar unverständliche Worte stammelte, dann auf eine Fuge im Deck niedersah und verstummte. Er, der sonst ein so anmaßender Kerl war, kniff jetzt schimpflich aus.

»Das wäre somit erledigt,« rief Wilson scharf, »ihr habt also, wie ich sehe, nichts gegen ihn vorzubringen.«

Mehrere schienen ein gut Teil sagen zu wollen, aber durch das Verhalten des Bottlers enttäuscht und aus der Fassung gebracht, hielten sie inne, ehe sie noch begonnen hatten, und der Konsul fuhr fort: »Habt ihr genug zu essen an Bord? Antworten Sie mir – der Mann, der vorhin gesprochen hat!«

»Je nun, das könnt' ich nicht sagen«, antwortete der Bottler unsicher; er versuchte sich zu drücken, wurde aber von den anderen wieder vorgeschoben. »Das gesalzene Roßfleisch ist just nicht so gut, wie's sein könnte . . .«

»Darnach hab' ich Sie nicht gefragt«, rief der Konsul, der jetzt rasch mutiger wurde. »Antworten Sie gefälligst auf die Fragen, die ich stelle, oder ich werde Mittel finden, Sie dazu zu bringen.«

Das ging ein wenig zu weit. Der Ärger über die Feigheit des Bottlers, der in den Leuten kochte, brach los, und einer, ein junger Amerikaner, der Salem genannt wurde, nach der bekannten Hafenstadt in Massachusetts, aus der er kam, sprang vor, versetzte dem Bottler einen Rippenstoß, daß er knurrend auf den Konsul zutaumelte, riß sein Messer blank und schrie: »So, ich bin der kleine Bursche, der Ihre Fragen beantworten kann! Jetzt fragen Sie einmal mich, Herr Konsuler, jetzt fragen Sie mal mich!«

Aber der Konsuler hatte im Augenblick keine Frage zu stellen; beim Anblick des blanken Messers und wie er Spund zur Seite fliegen sah, war er im Luk verschwunden und sein Gesicht zur Zeit nicht zu sehen. Da der Steuermann ihm jedoch versicherte, daß die Gefahr vorüber sei, wurde er wieder sichtbar; er sah einigermaßen erregt, wenn nicht erschrocken aus, war aber offenbar entschlossen, sich so schneidig als möglich zu zeigen. In scharfem Ton warnte er alle, sie möchten sich vorsehen, und wiederholte seine Frage, ob es an Bord genug zu essen gäbe? Nun redeten alle zugleich; brüllend drangen sie auf ihn ein, und die Flüche fielen wie Hagel.

»Ja, was ist denn das? Was fällt euch ein?« schrie er, sobald es einen Augenblick stiller ward, »wer hat euch erlaubt, alle zugleich zu reden? Sie da, der Mann mit dem Messer, Sie werden noch jemandem ein Auge ausstechen – hören Sie? Sie, Herr? Sie scheinen ja sehr viel zu sagen zu haben! Wer sind Sie denn eigentlich? Wo haben Sie sich denn verheuert?«

»Ich bin nur ein verfluchtiger Strandräuber!«Dies ist ein Spitzname, der in der Südsee herumstreichenden Seeleuten gegeben wird, die sich hie und da für eine kurze Fahrt auf einem Walfischfänger verdingen, aber nicht dauernd auf einem Schiff bleiben; sie werden gewöhnlich im ersten Hafen, in dem das Schiff vor Anker geht, entlassen. Es sind zumeist abenteuerliche Gesellen, die sich auf den Inseln und den Schiffen in der Südsee herumtreiben, an keine Heimkehr denken und in schlechtem Ruf stehen. gab Salem zur Antwort; dabei trat er grimmig vor, wie ein wirklicher Seeräuber und sah dem Konsul gerade ins Auge. »Und wenn Sie's wissen wollen, aufs Schiff bin ich vor vier Monaten gekommen, an den Inseln!«Die Bay of Islands (Inselbucht) im nördlichen Neuseeland. Die Walfischfänger von Sydney legen dort regelmäßig an und nehmen Mannschaft auf.

»Erst vor vier Monaten! Und hier führen Sie das große Wort und reden mehr als Leute, die die ganze Fahrt mitgemacht haben!« Der Konsul versuchte böse auszusehen, aber es gelang ihm nicht recht. »Daß ich kein Wort mehr von Ihnen höre! Wo ist denn der anständige grauhaarige Mann, der Bottler? Er soll meine Fragen beantworten!«

»Hier gibt's keine grauhaarigen, anständigen Männer an Bord!« schrie Salem. »Wir sind hier lauter Piraten und Meuterer!«

Der Steuermann hatte die ganze Zeit geschwiegen; jetzt faßte der Konsul, der ängstlich geworden war und nicht wußte, was er tun sollte, ihn beim Arm und schritt mit ihm übers Deck. Sie besprachen sich rasch und leise, dann kam der Konsul zum Luk zurück, wandte sich plötzlich zu uns um und sagte, ohne auf das Vorgefallene zurückzukommen: »Aus Gründen, die ihr alle wißt, Leute, ist das Schiff zu meinen Händen übergeben worden. Da Kapitän Guy vorläufig an Land bleiben muß, wird euer Steuermann, Herr Jermin, bis zu seiner Wiederherstellung das Kommando führen. Ich sehe keinen Grund, weshalb die Fahrt nicht sogleich wieder aufgenommen werden sollte; um so mehr, als ich dafür sorgen werde, daß ihr noch zwei Harpuniere bekommt und genug tüchtige Leute, um drei Boote zu bemannen. Was die Kranken betrifft, so ist das weder meine noch eure Sache; Doktor Johnson wird nach ihnen sehen; aber das hab' ich euch ja schon gesagt. Sowie alles in Ordnung gebracht ist, und das wird längstens in zwei oder drei Tagen der Fall sein, geht ihr wieder in See auf eine dreimonatliche Fahrt, dann lauft ihr hier wieder ein, um euren Kapitän abzuholen. Ich hoffe, man wird mir, wenn ihr zurückkommt, nur Gutes von euch zu berichten haben. Jetzt werdet ihr weiter hier vor dem Hafen beiliegen. Neue Vorräte schicke ich euch, sobald ich sie auftreiben kann. So, ich habe euch nun nichts mehr zu sagen. Geht nach vorn an eure Plätze!«

Und ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und wollte in die Kajüte hinunter; aber er hatte kaum geschlossen, als die empörten Leute ihn von allen Seiten bestürmten und verlangten, daß er sie anhören sollte. Alle bestritten die Gesetzlichkeit seines Vorgehens, alle bestanden darauf, daß das Schiff in den Hafen gebracht werden müßte, und sie erklärten ihm ins Gesicht, daß sie auf der »Julia« nicht in See gehen würden.

Während dieses meuterischen Tobens hielt sich der Konsul, nicht ohne Angst, dicht am Luk. Über seine Taktik war er sich zweifellos schon vorher klar; es war offenbar alles zwischen ihm und dem Kapitän verabredet, denn seine ganze Antwort, ehe er sich eilends nach unten begab, war: »Geht nach vorn, Leute; ich bin mit euch fertig; alles dies hättet ihr früher sagen sollen. Ich habe gesagt, was zu geschehen hat; geht nach vorn, sage ich! Ich habe euch nichts mehr zu sagen.« Damit zog er die Schiebetür über das Luk und verschwand.

Die erbitterten Leute wollten ihm bereits nachdrängen, da wurde ihre Aufmerksamkeit durch einige von ihnen abgelenkt, die den treulosen Spund gepackt hatten. Unter einem Regen von Schlägen und Püffen wurde der Verräter nach der Back geschleppt, wo . . . das übrige will ich lieber nicht erzählen.

 


 << zurück weiter >>