Hermann Melville
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Hermann Melville

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Zweiundsiebzigstes Kapitel

Während unseres Aufenthaltes in Partuwei trafen wir auf eine Bande von sechs alten Landstreichern, die sich im Dorf und Hafen herumtrieben, nachdem sie gerade aus einem anderen Teil der Insel gekommen waren. Wenige Wochen vorher waren sie in Papiti auf einem Walfischfahrer ausgezahlt worden, auf dem sie sich ein halbes Jahr zuvor für eine Fahrt verdungen hatten. Die Fahrt war glänzend verlaufen, und sie waren in Taheiti, jeder mit einer Socke voll klingender Silbertaler, an Land gegangen. Als sie des Aufenthalts müde waren, taten sie sich mit ihrem letzten Geld zusammen und kauften ein Segelboot. Sie wollten damit nach einer unbewohnten Insel fahren, von der sie goldene Herrlichkeiten erzählen gehört hatten. Natürlich konnten sie nicht ohne einen Arzneischrank voll Branntweinflaschen und ein Reservefäßchen für den Notfall im Schiffsraum ausfahren. Und so segelten sie unter ihrer eigenen Flagge, als sie, bereits selber schwankend, bei einer steifen Brise und all ihr »Musselin« gesetzt, mit einem neunfachen Hurra aus der Bai von Papiti hinausfuhren. Der Abend kam, sie waren wohlgelaunt und tranken die Nacht hindurch, der Wind nahm zu und um Mitternacht, während sie sangen:

»So segeln wir, so segeln wir
Nach dem Barbareskenstrand!«

brachen beide Maste glatt ab. Zum Glück vermochte einer noch das Ruder zu halten; den anderen gelang es, an den Schiffsrand zu kriechen und Taue und Taljen durchzuschneiden, so daß sie von den abgebrochenen Stengen klar kamen. Bei dieser Arbeit gingen zwei von ihnen gelassen über Bord, in der irrigen Auffassung, daß draußen eine trockene Werft wäre, von der aus sie die Arbeit besser machen konnten; sie sanken auf den Grund wie Blei. Der Wind wurde zum Sturm; der Mann am Ruder hielt das Boot instinktiv vor dem Wind, und so liefen sie an das gegenüberliegende Ufer von Imio. Wie durch ein Wunder kamen sie durch eine Öffnung im Riff und schossen auf eine Korallenbank in verhältnismäßig ruhigem Wasser. Hier lagen sie bis zum Morgen; da kamen die Eingeborenen in ihren Kanus; mit ihrer Hilfe wurde der Schoner auf die Seite gelegt, – und es ergab sich, daß der Boden eingestoßen war. Darauf verkauften die Abenteurer das Schiff für ein paar Groschen an den Häuptling der Gegend und gingen, ihr kostbares Branntweinfaß vor sich herrollend, an Land. Als das Faß leer war, wanderten sie nach Partuwei.

Am Tag, nachdem wir diesen Kerlen begegneten, stießen wir in den benachbarten Hainen auf mehrere Trupps von Eingeborenen, die, mit schwerfälligen Musketen, rostigen Entermessern und seltsamen Keulen bewaffnet, mit lautem Geschrei das Buschwerk nach der Bande durchsuchten, die über Nacht alle Gesetze der Ortschaft übertreten hatte und daraufhin verduftet war.

Untertags war Pao-Paos Haus der angenehmste Aufenthalt. Nachdem wir alles gesehen hatten, was zu sehen war, verbrachten wir den größten Teil des Vormittags dort, frühstückten spät und speisten um zwei Uhr nachmittags. Manchmal lagen wir auf den Farnkräutern, rauchten und erzählten Geschichten, deren der Doktor so viele wußte wie ein pensionierter Hauptmann. Manchmal schwatzten wir mit den Eingeborenen, so gut es ging, und einmal zu unserer großen Freude brachte Pao-Pao uns Smolletts Romane in drei Bänden, die sich im Koffer eines Matrosen gefunden hatten, der vor einiger Zeit auf der Insel verstorben war. Oh, Amelia, oh, Peregrin, und du Held aller Schurken, Graf Fathom, wieviel schöne Stunden verdanken wir euch!

War es diese Lektüre, war es der Mangel an sentimentalem Zeitvertreib, jedenfalls versuchte der Doktor um diese Zeit, das Herz der kleinen Lu zu erobern. Wie ich schon sagte, war Pao-Paos Tochter von grausamer Zurückhaltung und schenkte uns auch nicht die geringste Beachtung. Oft sprach ich sie in ehrerbietigster Höflichkeit an, sie wendete nicht einmal ihr hübsches olivfarbenes Näschen nach mir. Sie weiß, was für Gesindel die Seeleute sind, dachte ich mir, und will nichts mit uns zu tun haben.

Aber mein Freund dachte nicht so. Er eröffnete den Feldzug nach allen Regeln der Kunst, rückte vorsichtig näher und begnügte sich drei Tage lang damit, die junge Dame etwa fünf Minuten lang nach jeder Mahlzeit anzustarren. Am vierten Tag fragte er sie etwas; am fünften ließ sie eine Nuß mit Salbe fallen und er hob sie auf und reichte sie ihr; am sechsten setzte er sich etwa vier Schritt von ihrer Lagerstatt nieder; und an dem denkwürdigen Morgen des siebenten wollte er seine Batterien spielen lassen.

Die junge Dame lag in den Farnkräutern, das Kinn in die eine Hand gestützt, während sie mit der anderen lässig in der taheitischen Bibel blätterte. Der Doktor kam näher. Sein Nachteil war, daß seine Sprachkenntnisse zu Liebesreden auf Taheitisch nicht reichten; aber da französische Grafen, wie man sagt, in gebrochenem Englisch entzückend den Hof zu machen wissen, warum sollte er es nicht in gebrochenem Taheitisch versuchen? »Ah!« sagte er mit betörendem Lächeln, »oih mickonarih? Oih lesi Bibli?«

Keine Antwort, nicht einmal ein Blick.

»Ah! mehteh! sehr guti lesi Bibli mickonarih.«

Ohne sich zu rühren, begann Lu leise vor sich hin zu lesen.

»Mickonarih Bibli lesi guti mehteh«, bemerkte der Doktor nochmals. Man beachte, wie genial er die Worte dreimal verschieden anzuordnen wußte.

Aber es war alles umsonst; die kleine Lu rührte sich nicht. Verzweifelnd hielt er inne; aber er dachte nicht daran, die Sache aufzugeben; im Gegenteil, er warf sich der Länge nach neben ihr hin und begann die Blätter für sie zu wenden. Lu fuhr kaum merklich zusammen, machte mit den Fingern eine Bewegung und lag wieder regungslos. Der Doktor, über seine eigene Kühnheit erschrocken, wußte nicht, was er tun sollte. Schließlich legte er den einen Arm vorsichtig um ihren Leib; im nächsten Augenblick sprang er mit einem heftigen Schrei auf: die kleine Person hatte ihm einen scharfen Dorn in die Hand gebohrt. Dabei lag sie völlig ruhig da, wendete die Blätter und las halblaut vor sich hin. Der lange Doktor hob die Belagerung sofort auf und trat einen nicht sehr geordneten Rückzug nach der Stelle an, an der ich lag und zusah.

Lu mußte den Vorfall ihrem Vater berichtet haben, als er bald darauf eintrat; denn er sah den Doktor sonderbar an, sagte jedoch nichts, und war zehn Minuten später so freundlich wie immer. Lu änderte ihr Verhalten in keiner Weise; der Doktor aber machte keinen Versuch mehr.

 


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