Hermann Melville
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Hermann Melville

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Achtundsechzigstes Kapitel

Meine Sandalen waren indessen völlig unbrauchbar geworden; daher warf ich sie weg und ging mit dem Doktor barfuß. Auch er war jetzt der Ansicht, Stiefel seien nur eine Last, und barfuß zu gehen sei viel männlicher. Allerdings sagte er das, als wir über weichen Rasen gingen, der noch zu Mittag tauig im Waldesschatten lag. Nun aber kamen wir an einen sandigen Strich, auf den die Sonne niederbrannte, so daß der lose Kies unter unseren Füßen heiß wie ein Ofenrohr war. Was wir da an Schreien und Springen leisteten, war nicht zu übertreffen. Wir hätten bis zum Abend warten müssen, wären nicht im Sandboden kleine, zähe, einzelnstehende Büsche gewachsen, in denen wir unsere Füße kühlen konnten. Dabei mußten wir jeden Schritt überlegen, denn wenn der nächste Busch zu weit war, mußte man zu dem früheren zurück. Als wir diese Feuerwüste überschritten hatten, kam ein angenehmer Weg durch eine Wiese von hohem Gras, der unseren halbverbrannten Füßen wohltat und uns bis zu den ersten Häusern in einem Hain am Rande des Dorfes Partuwei führte. Der Doktor wollte gleich in das allererste eintreten; aber es sah für eine Eingeborenenwohnung so vornehm aus, daß ich zögerte; es mochte der Wohnsitz eines der höheren Häuptlinge sein, von dem wir keinen sehr warmen Empfang erwarten konnten. Während wir noch unentschlossen dastanden, rief eine Stimme aus dem nächsten Hause: »Erameh! Erameh, karhauri!« (Tretet ein! Tretet ein, Fremdlinge!)

Wir traten ein und wurden warm begrüßt. Der Herr des Hauses war ein sehr aristokratisch aussehender Eingeborener in weiten Leinenhosen, einem feinen weißen Hemd und einer rotseidenen Schärpe, wie sie die Spanier in Chile tragen. Er kam unbefangen auf uns zu, schlug mit der Hand auf die Brust und stellte sich als Eremiah Pao-Pao vor, was Jeremias Pao-Pao bedeutete.

Wenn ein Eingeborener getauft wird und etwas an seinem Namen dem Missionar bedenklich erscheint, so besteht dieser auf einer Änderung. Unser Wirt hatte Narmo-Nena Pao-Pao geheißen, was etwa bedeutete »Der den Teufeln bei Nacht trotzt«. Der Geistliche hatte ihm gesagt, daß solch ein heidnischer Name unmöglich sei und zum mindesten der Teil, der des Teufels war, ersetzt werden müßte. Es wurden ihm darauf eine Anzahl hochanständiger christlicher Namen vorgelegt, aus denen er wählen durfte: Adamo, Nuar (Noa), Davidar, Iarcobar (Jakob), Iorna (John), Petura (Peter), Eremiah usw. So wurde er Jeremias Pao-Pao, was etwa »Jeremias im Dunkeln« bedeutet.

Wir nannten ihm auch unsere Namen; darauf bat er uns, Platz zu nehmen, setzte sich selbst und stellte uns viele Fragen in einer Sprache, die eine Mischung von Englisch und Taheitisch war. Auch seine Gattin, eine starke, freundlich aussehende Frau von über vierzig Jahren, setzte sich zu uns, nachdem sie erst einen alten Mann beauftragt hatte, das Essen zu bereiten. Wir sahen in unseren beschmutzten und zerrissenen Reisekleidern nicht eben fein aus, und die gute Dame sah uns sehr mitleidig an und sprach in klagenden Lauten darüber.

Sie waren übrigens nicht die einzigen Bewohner des Hauses. In einer Ecke, auf einer großen Lagerstätte, die auf Pfosten stand, lag ein junges Mädchen, das, halb in ihr langes Haar gehüllt, sich erst noch anziehen mußte. Sie war Pao-Paos Tochter, und eine sehr schöne kleine Tochter, nicht über vierzehn, mit der entzückendsten Figur und großen haselnußbraunen Augen. Sie wurde Lu gerufen, und dieser hübsche vornehme Name paßte durchaus zu ihr, denn ein hübscheres und vornehmeres kleines Geschöpf wäre auf Imio nicht zu finden gewesen. Sie war übrigens eine kalte und hochmütige junge Schönheit und schenkte uns nicht die geringste Beachtung, höchstens daß sie uns hier und da mit gleichgültigen Blicken streifte. Da die Tränen, die die Mädchen von Luhulu an unserem Halse geweint hatten, noch kaum getrocknet waren, fühlten wir uns durch diese verächtliche Behandlung nicht wenig gekränkt.

Als wir eintraten, hatte Pao-Pao eben den Teppich von getrockneten Farnkräutern, die am Morgen frisch gestreut worden waren, mit einem Rechen geglättet; auf diesen duftenden Boden wurde auf einem großen Bananenblatt uns das Mahl vorgesetzt. Wir warfen uns hin und aßen gebackenes Schweinefleisch mit Brotfrucht von irdenen Tellern und zum erstenmal seit vielen Monaten mit Messer und Gabel.

Diese und andere Zeichen hoher Kultur erklärten uns die Zurückhaltung der kleinen Lu. Ihre Eltern waren zweifellos Magnaten, und sie eine Erbin.

Als sie hörten, daß wir im Tal von Martehr gewesen waren, wünschten sie zu wissen, was uns nach Telu führte. Wir deuteten nur an, daß wir des Schiffes wegen kämen, das im Hafen lag. Afriti, Pao-Paos Frau, war eine mütterliche Dame. Nach dem Mahl empfahl sie uns ein Schläfchen; und als wir erfrischt erwachten, führte sie uns zur Haustüre und wies in den Hain, wo wir zwischen den Bäumen Wasser schimmern sahen. Wir gingen dahin und fanden einen tiefen schattigen Teich, badeten und kehrten ins Haus zurück. Unsere Wirtin setzte sich zu uns, und nachdem sie den Mantel des Doktors mit großem Interesse betrachtet hatte, befühlte sie mein schmutziges, zerfetztes Gewand zum hundertsten Mal und rief klagend »ah, nui nui oli meni! oli meni!« (Ach! sehr, sehr alt! sehr alt!) Dabei glaubte die gute Frau das beste Englisch zu sprechen. Das Wort »nui« ist so allgemein gebräuchlich, auch bei den Fremden, daß die Eingeborenen es für ein Wort halten, das allen Sprachen gemeinsam ist. »Oli meni« ist die Eingeborenen-Aussprache des englischen »old man« (alter Mann), das sie auf Sachen wie auf Personen anwenden.

Darauf öffnete sie eine Truhe und entnahm ihr zwei vollständig neue Seemannsanzüge, Jacken und Hosen, bot sie uns mit freundlichem Lächeln, schob uns hinter einen Wandschirm aus Kattun und ließ uns dort allein. Ohne uns weiter zu sperren, legten wir die neuen Kleider an und sahen nach dem Mahl, dem Schlaf und dem Bad wie zwei Hochzeiter aus.

Als der Abend kam, wurden Lampen angezündet: die Lampe ist eine halbe grüne Melone, bis zu einem Drittel mit Kokosöl gefüllt; ein aus Tappa gedrehter Docht schwimmt auf der Oberfläche. Es gibt keine bessere. Nachtlampe: ein sanftes, träumerisches Licht dringt aus der durchscheinenden Schale.

Mit der Zeit erschienen noch andere Mitglieder des Haushalts: ein schlanker, junger Mann, sehr elegant, in einem gestreiften Hemde, während viele Ellen von hellem gemusterten Kattun, die er um den Leib geschlungen hatte, zur Erde wallten. Er trug auch einen neuen Strohhut, mit drei Bändern darum, einem schwarzen, einem grünen und einem roten. Schuhe oder Strümpfe trug er nicht. Dann kam ein Paar zierlicher olivenwangiger kleiner Mädchen, Zwillinge mit sanften Augen und herrlichem Haar, die halb nackt durch das Haus liefen wie ein Gazellenpaar. Sie hatten einen noch jüngeren Bruder, einen schönen dunklen Knaben, mit Augen wie die einer Frau. Alle waren die Kinder Pao-Paos, die er in rechtmäßiger Ehe gezeugt hatte. Außerdem waren noch zwei oder drei alte Damen in schäbigen Kleidern aus nicht sehr sauberem Tuch da, die ihnen auch so schlecht saßen, daß ich die Trägerinnen für ein paar arme Verwandte hielt, die von der Freigebigkeit der Dame Afriti lebten. Es waren traurige demütige alte Weibchen, die wenig redeten und noch weniger aßen und die Augen meist zu Boden schlugen oder sie nur bescheiden hoben.

Ihr Dasein war nur aus der Halbkultur der Insel zu erklären. Fast hätte ich den grinsenden alten Moni vergessen, der das Essen bereitet hatte; sein Kopf war eine kahle glatte Kugel; er hatte einen runden kleinen Bauch und Beine wie eine Katze. Er war Pao-Paos Faktotum, Koch und Kellermeister, hatte auf die Brotfrucht- und Kokosnußbäume zu klettern, um die Früchte zu holen, und stand bei seiner Herrin, mit der er stundenlang rauchte und schwatzte, sehr in Gunst. Ich sah ihn oft unermüdlich arbeiten, bis er plötzlich mitten darin, was es immer sein mochte, aufhörte, sich in eine Ecke warf und ein Schläfchen machte, wonach er wieder aufsprang und mit frischen Kräften weiterschaffte.

Irgend etwas in dem Verhalten Pao-Paos ließ mich schließen, daß er eine Säule der Kirche sein mußte, obschon ich dies nach meinen Erfahrungen in Taheiti kaum mit seinem offenen und herzlichen Wesen vereinen konnte. Aber mein Schluß war richtig: er war eine Art Kirchenältester, war auch ein vermögender Mann und der nahe Verwandte eines hohen Häuptlings. Bevor man zur Ruhe ging, versammelte sich der ganze Haushalt, und er las laut ein Kapitel aus der taheitischen Bibel vor, dann kniete er mit allen anderen hin und betete, worauf man schweigend auseinanderging. Diese Andachten fanden regelmäßig jeden Abend und jeden Morgen statt. Auch vor und nach dem Essen wurde jedesmal ein Tischgebet gesprochen. Nach dem, was ich sonst gesehen hatte, setzte mich der Ton in diesem Hause in Erstaunen. Pao-Pao war in der Tat ein Christ, ja er und seine Frau Afriti die einzigen wahren Christen, die ich unter den Eingeborenen Polynesiens kennengelernt habe.

 


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