Hermann Melville
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Hermann Melville

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Zweites Kapitel

Die »Julia« oder »Klein-Julchen«, wie die Matrosen sie nannten, war eine kleine Bark von zweihundert Tonnen amerikanischer Bauart, und zwar wundervoll gebaut, aber schon recht alt. Während des Krieges von 1812 war sie als Kaperschiff aus einem neuenglischen Hafen ausgelaufen und auf hoher See von einem englischen Kreuzer weggenommen worden. Seither wurde sie in jeder erdenklichen Art verwendet, zuletzt als Regierungspostschiff in den Australischen Meeren. Vor etwa zwei Jahren ausrangiert, war sie von einer Firma in Sydney ersteigert und nach unbeträchtlichen Reparaturen auf ihre gegenwärtige Fahrt geschickt worden.

Sie befand sich in einem elenden Zustand. Die Masten, sagten die Leute, waren nicht mehr sicher; das stehende Tauwerk war abgenutzt, selbst die Verschanzung an vielen Stellen faul. Trotzdem hielt sie noch ziemlich dicht; ein mäßiges Pumpen am Morgen genügte, sie lenz zu halten.

Aber all das tat ihrer Segelfähigkeit keinen Eintrag. Wie es auch blasen mochte, eine sanfte Brise oder Sturm, sie war immer bereit; wenn sie die Wogen schäumend teilte und über das Meer nur so hintanzte und sprang, dann vergaß man ihre geflickten Segel und ihren schadhaften Rumpf. Wie das behende Ding vor dem Winde lief! Ja, gewiß, sie rollte hie und da, aber das war mehr Spaß! Und kein Windstoß konnte ihr etwas anhaben, wenn sie luvte: mit steifen Spieren steckte sie die Nase in den Wind und schoß durch die Wellen.

Trotzdem konnte man ihr nicht trauen. Gerade, weil sie so lebhaft und zu Scherzen geneigt war. So wie ein munterer Greis eines Tages hinfällig wird, so konnte sie in einer dunkeln Nacht leck laufen und mit uns allen auf den Grund sinken. Übrigens hat sie uns diesen häßlichen Streich nicht gespielt, und so tue ich ihr vielleicht Unrecht.

Nach ihren Schiffspapieren konnte sie fahren, wohin sie wollte, auf Walfisch-, auf Robbenjagd oder was immer sonst; sie jagte hauptsächlich auf Pottwale; wenn auch bis dahin nur zwei Fische längsschiffs gebracht worden waren.

Am Tag, an dem sie Sydney verließ, hatte die Mannschaft alles in allem zweiunddreißig Seelen gezählt; jetzt waren es kaum zwanzig; die anderen waren ausgerissen. Selbst die drei Untermaaten, die die Walfischboote geführt hatten, waren fort; und von den vier Harpunieren war nur noch einer übrig, und der war ein Maori, ein wilder Neuseeländer. Mehr als die Hälfte der Leute war krank infolge eines längeren Aufenthalts in einer liederlichen Hafenstadt. Einige waren vollkommen dienstunfähig, ein oder zwei gefährlich krank; die übrigen konnten gerade noch ihre Wache durchhalten, aber sonst nicht viel leisten.

Der Kapitän war ein junges Londoner Stadtkind, vor zwei Jahren nach Australien ausgewandert, und hatte durch Protektion das Kommando bekommen, dem er in keiner Weise gewachsen war. Er war nicht ohne Bildung, aber zum Seemann geeignet wie ein Friseur. Alles machte sich über ihn lustig. Er hieß der »Kajütenjunge« oder »Schreiberhans« und hatte noch ein halbes Dutzend ähnlicher Spitznamen. Die Mannschaft verhöhnte ihn ganz offen. Der schmächtige Herr wußte es und trat dementsprechend bescheiden auf. Er suchte so wenig als möglich mit den Leuten in Berührung zu kommen und überließ alles dem ersten Steuermann. Scheinbar hielt er sich vollkommen zurück, hatte aber doch mehr Einfluß, als die Leute glaubten. Während er aussah, als könne er nicht bis zwei zählen, war er, bei aller Ängstlichkeit, ganz schlau, und der derbe Steuermann wurde oft von ihm geschoben, während er zu schieben glaubte; niemand ahnte, daß gewisse gehässige Maßnahmen, die er trotz allem Murren der Leute durchsetzte, eigentlich dem eleganten kleinen Herrn in der Nankingjacke und den weißen Segeltuchschuhen zu danken waren. Meistens allerdings tat der Steuermann, was er wollte, und der Kapitän hatte sichtlich Angst vor ihm.

Was Mut, Seebefahrenheit und eine natürliche Fähigkeit, unbotmäßiges wüstes Gesindel in Schach zu halten, betraf, so war niemand für seinen Beruf besser geeignet als John Jermin. Er war ein vollendetes Exemplar jener kurzen, stämmigen, untersetzten Leute, die oft so ungewöhnlich tüchtig sind. Das krause Haar wuchs in kleinen eisengrauen Löckchen um den kugelrunden Kopf, das Gesicht war von Blatternarben zerrissen, mit dem einen Auge schielte er ein wenig, was ihm ein verwegenes Aussehen gab; die Nase stand ihm schief im Gesicht, und der breite Mund mit den großen weißen Zähnen sah, wenn er lachte, geradezu haifischmäßig aus. Niemand hatte Lust, mit ihm anzubinden. Und trotzdem, so gefährlich er aussah, er hatte ein großes Herz, und auch das merkte man auf den ersten Blick.

Er hatte nur einen Fehler: seine Liebe zu starkem Getränk; und er trank zu allen Zeiten. Mäßig genommen, glaube ich, tat es einem Mann, wie ihm, gut, machte seine Augen leuchten, wärmte ihm das Blut und vertrieb die schlechte Laune. Das Schlimme war, daß er manchmal zuviel trank, und dann wurde er streitsüchtig. Aber selbst die Leute, die er verprügelte, liebten ihn; er schlug sie so gemütlich zu Boden, daß keiner es ihm ernstlich nachtrug. Das war unser wackerer Steuermann, der kleine Jermin.

Nach dem Gesetz muß jeder englische Walfischfänger einen Arzt mitführen; dieser ist ein »Herr« und wohnt in der Kajüte; er hat keine anderen Pflichten als die seines Berufes, gelegentlich trinkt er mit dem Kapitän heißen Punsch und spielt Karten mit ihm. Auch auf der »Julia« war ein Schiffsarzt; aber er wohnte merkwürdigerweise im Vorderkastell mit der Mannschaft. Und das kam so.

Seine Vorgeschichte war gleich der vieler Helden in Dunkel gehüllt, obwohl er manchmal Andeutungen auf ein väterliches Erbe und einen steinreichen Onkel machte sowie auf eine unglückliche Geschichte, die ihn zu seinem Wanderleben gezwungen hatte. Fest stand, daß er als Assistenzarzt auf einem Auswandererschiff nach Sydney gekommen und ins innere Australien gezogen war. Einige Monate später war er ohne einen Pfennig Geld nach Sydney zurückgekehrt und Schiffsarzt an Bord der »Julia« geworden.

Anfangs hatten der Doktor und der Kapitän auf freundlichstem Fuß gestanden. Sie hatten manche Bowle miteinander geleert; beide waren belesen, der eine weitgereist, daher konnten sie endlos erzählen. Aber einmal waren sie über einen politischen Streit in Wut geraten; der Doktor hatte seine Fäuste als Argumente gebraucht, bis der Kapitän, in jedem Sinne geschlagen, am Boden lag. Dafür bekam er zehn Tage Arrest in seiner Kabine und wurde auf Wasser und Brot gesetzt. Tief gekränkt verließ er das Schiff bald darauf heimlich auf einer Insel, wurde aber wieder eingefangen, schimpflich an Bord geschleppt und wiederum eingesperrt. Darauf schwor er, mit dem Kapitän nicht mehr zu verkehren, und zog mit seinem ganzen Gepäck zur Mannschaft, die ihn als guten Kameraden, dem Unrecht geschehen war, mit offenen Armen aufnahm.

Er war eine auffällige Erscheinung, über sechs Fuß hoch, ein türmendes Knochengerüst ohne Fleisch, mit vollkommen fahler Hautfarbe, blondem Haar und hellen, unbekümmerten grauen Augen, die recht boshaft zwinkern konnten. Bei der Mannschaft hieß er der lange Doktor oder noch öfter das lange Gespenst. Woher er auch kommen mochte, er hatte sicher einmal Geld gehabt, Burgunder getrunken und in der guten Gesellschaft verkehrt. Er zitierte Virgil, redete über Philosophie und deklamierte mitunter lange Reihen von Versen englischer Dichter. Er hatte viel von der Welt gesehen, konnte so nebenbei eine Liebesgeschichte, die er in Palermo erlebt hatte, oder eine Löwenjagd in Südafrika erzählen oder erklären, was für Kaffee man in Maskat trinkt. Er wußte Hunderte von Anekdoten und sang die wunderbarsten alten Lieder mit so voller und reicher Stimme, daß es eine Wonne war, ihn zu hören. Wie solche Töne aus seinem dürren Leibe kommen konnten, blieb ein Rätsel.

Jedenfalls war das lange Gespenst ein höchst unterhaltender Reisegefährte und auf der »Julia« für mich eine wahre Gottesgabe.

 


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