Hermann Melville
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Hermann Melville

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Elftes Kapitel

Dieses lustige Wesen, das übrigens nicht immer herrschte, stand in seltsamem Kontrast zur Lage der Kranken an Bord. Aber das fiel höchstens mir auf, keinem anderen.

Wir waren etwa drei Wochen unter Segel, als zwei unserer Kranken, deren Zustand sich rasch verschlimmert hatte, in derselben Nacht innerhalb einer Stunde starben. Der eine lag in der Koje neben mir und hatte schon mehrere Tage nicht aufstehen können. Er delirierte von Zeit zu Zeit, setzte sich auf, starrte wild um sich oder streckte die Arme empor. In seiner letzten Nacht war ich, kurz nachdem die zweite Wache angefangen hatte, zu Bett gegangen und erwachte aus einem verworrenen und schauerlichen Traum. Ich fühlte etwas Feuchtkaltes auf mir liegen: es war die Hand des Kranken. Er hatte sie schon am vorhergehenden Abend einige Male in meine Koje gestreckt, und ich hatte sie jedesmal sacht entfernt; jetzt schleuderte ich sie erschrocken von mir; der Arm fiel schwer und steif hin, und ich wußte, der Mann war tot.

Wir weckten die Leute; der Leichnam wurde sogleich in die zerrissene Decke gerollt, auf der er lag, und an Deck getragen. Der Steuermann wurde gerufen. Der Körper wurde am Vorluk ausgestreckt, in eine Hängematte eingenäht und mit etwas Ballasteisen an den Füßen beschwert. Dann wurde er zum Fallreep getragen und auf eine Planke gelegt, die über die Reling geschoben wurde. Um irgendeine Art Feierlichkeit damit zu verbinden, wurde die Fahrt des Schiffes abgestoppt, indem das Großmarssegel backgebraßt wurde. Der Steuermann, der keineswegs nüchtern war, kam schwankenden Gangs näher, hielt sich an den Wanten fest und gab das Kommando. Sowie die Planke überkippte, glitt der Körper langsam abwärts und fiel aufklatschend ins Meer. Ein paar Blasen stiegen auf, dann sah man nichts mehr.

»Hol an die Brassen!« Die Großrahe flog herum, und das Schiff glitt weiter.

Wir hatten einen Schiffsgenossen den Haifischen vorgeworfen, aber der Mannschaft war nichts davon anzumerken. Der Tote war ein mürrischer, ungeselliger Mensch und im Leben nicht beliebt gewesen; jetzt wurde seiner nicht weiter gedacht. Die Leute beschäftigte nur die Frage, was mit seinen Sachen geschehen sollte; er hatte seinen Koffer immer versperrt gehalten, man vermutete daher Geld darin, und einer erbot sich, ihn aufzubrechen, um den gesamten Inhalt, Kleider und was er sonst enthielt, aufzuteilen, ehe der Kapitän ihn anforderte.

Während ich und andere sie davon abzubringen suchten, ertönte ein Schrei aus der Back. Es konnten nur zwei Kranke unten sein, die nicht an Deck hatten kriechen können. Wir gingen nach unten und fanden den einen im Sterben. Er war in einem Anfall aus seiner Hängematte gestürzt und lag besinnungslos auf einer Kiste. Seine Augen waren weitgeöffnet und starr, und er röchelte krampfhaft. Die Leute wichen zurück; aber der Doktor faßte seine Hand, hielt sie einen Augenblick in der seinen, dann ließ er sie plötzlich fallen. »Aus!« sagte er. Der Körper wurde sogleich hinaufgetragen, eine zweite Hängematte bereitgemacht und der Tote eingenäht, wie vorher. Diesmal bestanden einige auf größerer Feierlichkeit, und man rief nach einer Bibel. Aber es war keine an Bord vorhanden, nicht einmal ein Gebetbuch. Darauf trat Antone, ein Portugiese von den Capverdischen Inseln, vor, murmelte etwas über den Leichnam des Toten, der sein Landsmann war, und beschrieb mit dem Finger ein großes Kreuz über der Hängematte; dann ließ man ihn genau wie den ersten über Bord fallen. Das ist Seemannsschicksal; man gibt ihm einen letzten Stoß, und niemand fragt, weß Kind er war.

Beide starben an den Folgen des gewöhnlichen Leichtsinns der Seeleute; aber an Land und bei geeigneter Behandlung wären sie zweifellos geheilt worden.

In dieser Nacht fanden wir keinen Schlaf mehr. Viele blieben bis zum hellen Morgen an Deck und erzählten einander Seegeschichten, wie die Gelegenheit sie ergab. So wenig ich an derartige Dinge glaubte, beim Hören machten sie mir doch Eindruck, besonders eine, die der Zimmermann erzählte.

Auf einer Indienfahrt hatten sie Fieber an Bord, und innerhalb von wenigen Tagen starb beinahe die halbe Mannschaft hin. Danach wollte kein Mann mehr nach oben gehen, sie mußten mindestens zu zweien sein. Wenn die Toppsegel gerefft wurden, sah man Erscheinungen an den Enden der Rahen; wenn das Schiff gewendet wurde, riefen Stimmen von den Toppen. Der Zimmermann selbst, als er in einer schweren Bö mit einem anderen das Großbramsegel festmachen sollte, wurde von einer unsichtbaren Hand beinahe aus den Perten gestoßen, und sein Genosse schwor, daß ihm eine nasse Hängematte ins Gesicht geschlagen worden war. Derartige Geschichten wurden von »Augenzeugen« als heilige Wahrheit erzählt.

Es dürfte nicht allgemein bekannt sein, daß Finnländer unter den Seeleuten in einem besonderen Ruf stehen. Sie sollen das zweite Gesicht haben und die Fähigkeit, an denen, die ihnen etwas angetan, auf übernatürlichem Wege Rache zu nehmen. Und zwei oder drei Finnländer, mit denen ich zu verschiedenen Zeiten fuhr, waren wohl dazu angetan, auf abergläubische Seelen einen gewissen Eindruck zu machen.

Wir hatten damals einen an Bord; es war ein alter Kerl mit hellem Haar, der immer eine selbstgemachte Seehundsfellmütze trug und seinen Tabak in einer großen Tasche, gleichfalls aus Seehundsfell, verwahrte. Van, so nannte man ihn, war ein ruhiger friedfertiger Mensch, und die Leute hatten ihn bis dahin wenig beachtet. In jener Nacht aber machte er eine Prophezeiung, die wörtlich in Erfüllung ging, wenn auch nicht in dem Sinn, in. dem sie gemacht und aufgefaßt wurde. Er legte die Hand an das alte Hufeisen, das als Talisman an den Fockmast genagelt war, und sagte feierlich: in weniger als drei Wochen würde nicht mehr als der vierte Teil der Mannschaft an Bord sein, die anderen würden das Schiff für immer verlassen haben.

Einige lachten. Der »Schwindel-Jack« nannte ihn einen alten Narren, aber auf die meisten machte es sichtlich Eindruck. Einige Tage ging es an Bord merkwürdig ruhig zu, und man konnte Bemerkungen hören, die nur auf die Wahrsagung des Finnen zurückzuführen waren.

Auch auf mich waren die geschilderten Ereignisse nicht ohne Eindruck geblieben. Ich bedachte, wie kritisch unsere Lage war. Auch der Doktor sagte, er würde viel darum geben, sicher auf einer Insel gelandet zu sein. Wo wir waren und wohin wir steuerten, schien außer dem Steuermann niemand zu wissen. Der Kapitän war eine Null und lag krank in der Kajüte; ein guter Teil der Mannschaft verkam im Logis.

War es schon von Anfang an sonderbar, daß wir überhaupt auf See blieben, so wurde es nun vollkommen unverantwortlich. Dazu kam, daß unser Schicksal ganz und gar in der Hand des ewig betrunkenen Jermin lag. Wenn ihm etwas zustieß, war niemand mehr da, der ein Schiff zu führen verstand; er hatte vom Beginn der Fahrt an alle Berechnungen gemacht, denn die nautischen Kenntnisse des Kapitäns waren vollkommen unzureichend. Aber so sonderbar es scheinen mag, der Mannschaft kamen derlei Gedanken nie. Sie waren nur abergläubischer Furcht zugänglich, und als trotz der Prophezeiung des Finnen die Kranken sich etwas erholten, wurden sie wieder vergnügt und begannen das Geschehene allmählich zu vergessen. Eine Woche später war die Seeuntüchtigkeit »Klein-Julchens« bereits wieder der Gegenstand des allgemeinen Witzes. In der Back stieß Schwindel-Jack sein Messer tief in die feuchten, verfaulten Planken, die zwischen uns und dem Tode waren, und warf die herausgeschnittenen Stücke mit einem Seemannswitz hin.

Der Zustand der Kranken war im Augenblick nicht gefährlich, und selbst die am meisten litten, verbissen den Schmerz. Krankheit ist auf See so verhaßt und findet so wenig Pflege, daß jeder sie zu verbergen sucht. Man hat mit anderen nie Mitleid gehabt und erwartet auch selbst keines. Landmenschen werden ganz betroffen, wenn sie diese Härte zum erstenmal wahrnehmen. Unsere Kranken schimpften mitunter, daß man sie nutzlos auf See hielt, anstatt sie an Land zu bringen, wo sie sich hätten erholen können, aber der Steuermann sagte nur: »Seid doch munter, Herzenskinder!«, und sie hörten auf zu murren. Was die Leute am meisten mit ihrer Lage versöhnte, war, daß der Steward zweimal täglich auf dem Ankerspill jedem sein »Gläschen« – so wurde ein kleines Zinnmaß genannt – Pisco austeilte. Seeleute lieben starke Getränke, und in der Südsee, wo sie selten zu haben sind, ist einem ordentlichen Seemann für sein »Gläschen« kein Preis zu hoch. Auf amerikanischen Walfischfängern gibt es heute geistige Getränke höchstens in Augenblicken schwerster Mühe und Gefahr; aber die aus Sydney führen sie als regelmäßigen Mundvorrat mit. Im Hafen gibt es keinen Pisco, vermutlich, um die Fahrt anziehender zu machen.

Unsere Kranken bekamen Pisco außer ihren Gläschen auch als Medizin, am letzten Wochentag gab es überdies die »Samstagnachtflaschen«, wie man auf englischen Schiffen sagt: sogleich nach Einbruch der Dunkelheit wurden zwei Flaschen nach vorn geschickt, eine für die Steuerbord-, die andere für die Backbordwache; der Älteste der Wache machte nach altem Recht den Wirt, schenkte aus und ließ die Flasche herumgehen. Aber der Zimmermann und der Bottler, an Bord »Sägspan« und »Spund« genannt, die die Logisältesten waren, wußten sich stets Extrarationen zu verschaffen, mit denen sie sich nachmittags bei guter Laune erhielten und mit dem Stand der Dinge aussöhnten.

Pottwale hatten wir allerdings noch nicht gesehen; da wir nicht die Möglichkeit hatten, auf sie Jagd zu machen, war das auch unwesentlich. Bis nun hatten die Leute sich alle zwei Stunden im Ausguck abgelöst; jetzt schworen sie, sie würden nicht mehr nach oben gehen. Der Steuermann sagte nur, wo wir hinführen, sei der Ausguck überflüssig; die Walfische, die er im Auge hätte – Schwindel-Jack meinte, anderswo existierten sie nicht –, seien so zahm, daß sie ans Schiff herankämen und sich den Rücken daran rieben.

So lebten wir in der Wasserwelt etwa vier Wochen oder mehr, seitdem wir Hannamenu hinter uns gelassen hatten.

 


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