Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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98. Novelle
Die unglücklichen Liebenden

In Frankreich lebte ein reicher, angesehener Ritter der ebenso ob seines alten Geschlechts wie wegen seiner eigenen tugendhaften Taten bekannt war. Von seiner Gattin hatte er eine einzige Tochter, ein schönes, wohlgebildetes, ungefähr sechzehn- oder siebzehnjähriges Mädchen. Als der gute edle Ritter seine Tochter im heiratsfähigen Alter sah, wünschte er von ganzem Herzen, sie einem Ritter in der Nachbarschaft zur Frau zu geben, der sehr reich war und, wenn auch nicht durch sein Geschlecht, so durch seine großen Schätze und irdischen Güter hervorragte und außerdem sechzig bis achtzig Jahre alt war. Dieser Wunsch setzte sich im Kopf des Vaters, von dem ich eben gesprochen habe, so fest, daß er sich nicht eher beruhigte, als bis die Verbindung und die Abmachungen zwischen ihm und seiner Frau, der Mutter des Mädchens, und dem Ritter betreffs seiner Heirat mit der Tochter beendet waren. Die letztere wußte nicht das mindeste von den Zusammenkünften, Versprechen und Verhandlungen und dachte nicht im entferntesten daran.

Ziemlich nahe dem Hause des Ritters, des Vaters des Mädchens, wohnte ein anderer junger, tapferer Ritter, der nicht soviel Güter wie der eben erwähnte alte besaß, sondern nur mäßig reich und in heftiger Liebe zu diesem Mädchen entbrannt war. Sie war ebenfalls ob seines tugendhaften und großen Rufes in ihn sehr verliebt, und obwohl sie nur schwer miteinander sprechen konnten, da der Vater sie beargwöhnte und ihnen alle Wege versperrte, vermochte dieser doch nicht die innige und treue Liebe, die in ihrer beider Herzen wohnte und sie miteinander verband, zu zerstören. Und wenn das Schicksal ihnen so günstig war, daß sie sich sprechen konnten, redeten sie von nichts anderem, als wie sie Mittel und Wege finden könnten, um ihren Herzenswunsch in rechtmäßiger Ehe zu befriedigen. Nun nahte die Zeit, da dieses Mädchen dem alten Herrn zur Frau gegeben werden sollte, und der Handel und Vertrag sowie der Hochzeitstag wurden ihr durch ihren Vater kundgetan, worüber sie nicht wenig erschrak. Doch dachte sie sich, sie werde schon einen Ausweg finden. Sie sandte zu ihrem teuren Freund, dem jungen Ritter, und ließ ihm sagen, er solle heimlich, so schnell er könne, zu ihr kommen. Und als er bei ihr war, erzählte sie ihm von der zwischen ihr und dem andern alten Ritter geplanten Heirat, fragte ihn um seinen Rat, wie sie dem entgehen könne, denn einen andern als ihn wolle sie nicht zum Mann.

»Meine teure Freundin«, erwiderte er, »da Eure Güte sich so weit erniedrigen will und mir anträgt, was ich ohne große Scheu nie zu erbitten gewagt hätte, danke ich Euch. Und wenn Ihr in diesem guten Willen beharren wollt, weiß ich, was wir tun müssen. Wir wollen einen Tag festsetzen, an dem ich, von meinen Freunden und Dienern wohlbegleitet, in die Stadt komme, und Ihr sollt Euch zu einer bestimmten Stunde an einem Ort einfinden, den Ihr mir jetzt nennen müßt und an dem ich Euch allein treffen kann. Ihr steigt auf mein Pferd, und ich führe Euch in mein Schloß; und dann, wenn wir den Zorn Eures Vaters und Eurer Frau Mutter beschwichtigen können, wollen wir unser Versprechen durch die Ehe besiegeln.«

Das Mädchen erklärte, das sei ein guter Rat und sie wisse, wie sie ihn gut befolgen könne. Darauf nannte sie ihm Tag und Stunde und Ort, wo sie sich einfinden wollte, und sagte, es solle alles nach ihrer Verabredung geschehen. Der festgesetzte Tag kam, und der gute, junge Ritter erschien an der verabredeten Stelle, fand seine Dame, nahm sie hinter sich auf sein Pferd, und dann ging es schnell fort. Als sie ein Stück weit geritten waren, unterbrach der gute Ritter, aus Furcht, es möchte seine teure Freundin zu sehr anstrengen, seinen schnellen Trab und hieß alle seine Leute auf verschiedenen Wegen sich zerstreuen, um zu sehen, ob ihnen jemand folgte. Er ritt, ohne sich an Weg und Steg zu kehren, so sacht und sanft er konnte, querfeldein weiter, nachdem er seinen Leuten befohlen hatte, sich bei einem großen Dorf, das er ihnen nannte und wo er die Absicht hatte, das Mahl einzunehmen, sich zusammenzufinden.

Dieses Dorf lag ziemlich weit von dem gewöhnlichen Wege, den Reiter und Fußgänger einschlugen. Die Liebenden ritten so lange, bis sie beide allein ins Dorf kamen, wo das Hauptfest gefeiert ward, zu dem sich alle möglichen Leute in großer Zahl eingefunden hatten. Sie traten in die beste Schenke des Orts und forderten unverzüglich zu trinken und essen, denn es war lange nach Mittag, und das Mädchen fühlte sich sehr angegriffen. Sie ließen ein gutes Feuer machen und bestellten das Essen für die Leute des Ritters, die noch nicht gekommen waren. Sie waren noch nicht lange im Wirtshaus, seht, da kamen vier ungeschliffene Bauern oder Ochsentreiber, und noch dazu die ärgsten, die man sich denken konnte, traten frech in das Haus und fragten laut, wo die Dirne sei, die vor kurzem ein Kuppler hinter sich auf dem Pferde geführt habe. Sie sollte mit ihnen trinken, und sie wollten sie der Reihe nach vornehmen. Der Wirt, der den Ritter wohl kannte und wußte, daß dem nicht so war, wie diese liederlichen Kerle dachten, antwortete ihnen freundlich, sie sei nicht solch eine Person, wie sie glaubten.

»Das ist uns ganz gleich!« erklärten sie. »Wenn Ihr sie uns nicht unverzüglich ausliefert, schlagen wir die Türen ein und führen sie mit Gewalt fort, ob Ihr wollt oder nicht.«

Als der Wirt ihre entschiedenen Worte hörte und sah, daß seine freundliche Entgegnung ihm nichts nutzte, nannte er ihnen den Namen des Ritters, der in der Gegend einen sehr guten Klang hatte, aber dem gemeinen Volk wenig bekannt war, weil der Ritter stets außer Landes gewesen war und Ehre und Ruhm in Kriegen und auf weiten Reisen erworben hatte. Er sagte ihnen auch, die Frau sei ein junges Mädchen, eine Verwandte des Ritters, die aus einem großen Hause und edlem Geschlecht stamme. »Ach, ihr Herren«, meinte er, »ihr könnt ohne Gefahr für euch noch sonst jemanden eure zuchtlosen Wünsche bei vielen andern hier stillen, die zu dem Fest im Dorf aus keinem andern Grunde als euch und euresgleichen zuliebe gekommen sind. Laßt doch um Gottes willen dieses edle Mädchen in Frieden, und denkt an die großen Gefahren, die ihr lauft, und glaubt doch ja nicht, daß der Ritter sie ohne Verteidigung von euch wegführen läßt. Denkt doch nur, wie unvernünftig eure Wünsche sind und wie groß das Unglück ist, das ihr euch um geringer Ursache willen aufladen wollt.«

»Spart Euch Eure Reden«, sagten die Tölpel, ganz vom Feuer der Fleischeslust erfüllt, »und gebt sie uns heraus. Sonst soll es Euch übel ergehen. Dann führen wir sie, so daß es jedermann sieht, von hier fort, und jeder von uns vieren soll an ihr seine Freude haben.«

Nach diesen Worten stieg der gute Wirt in das Zimmer, in dem der Ritter und das gute Mädchen weilten, nahm den Ritter beiseite und erzählte ihm von dem Begehren der vier lüsternen Schurken. Als der Ritter alles wohl vernommen hatte, stieg er mit seinem Degen bewaffnet hinab, um mit den vier Schuften zu sprechen, und fragte sie freundlich, was sie wollten. Roh und plump, wie sie waren, erklärten sie, sie wollten die Dirne, die er in seinem Zimmer eingeschlossen halte, haben, und gebe er sie ihnen nicht freiwillig, so würden sie sie ihm zu seinem großen Schaden rauben und entreißen.

»Liebe Herren«, versetzte der Ritter, »wenn ihr mich gut kenntet, würdet ihr mich nicht für einen Mann halten, der solche Frauen, zu denen ihr diese oben rechnet, durch das Land führt. Gott sei Dank beging ich niemals eine solche Torheit. Und wenn, was Gott verhüten wolle, mich solch eine Lust anwandelte, würde ich ihr in einer Gegend, aus der ich und alle die Meinen stammen, nicht nachgeben. Mein edler Sinn und mein reines Herz würden eine derartige Handlung nie zulassen. Diese Frau ist ein junges Mädchen, meine nahe Base und aus edlem Hause. Als ich zu meinem Vergnügen durchs Land ritt, nahm ich sie mit mir, begleitet von meinen Leuten, die zwar noch nicht hier sind, aber gleich kommen müssen, ich erwarte sie nämlich. Seid nicht so dumm, mich für so feig zu halten, daß ich sie beschimpfen und irgendein Unrecht erdulden lasse, ich werde sie vielmehr bis zu meinem Tode, soweit und solange es meine Kräfte zulassen, verteidigen.«

Ehe der Ritter noch endete, unterbrachen ihn die bösen Kerle und erklärten sofort, er sei nicht der, für den er sich ausgegeben habe, weil er allein sei und dieser Ritter niemals ohne große Begleitung ausreite; deshalb rieten sie ihm, ihnen die Frau zu geben, wenn er klug wäre, sonst würden sie sie ihm mit Gewalt nehmen, gleichviel, was daraus folgen könnte. Als der tapfere, mutige Ritter, ach! bemerkte, daß Freundlichkeit bei seiner Antwort nicht am Platze war und Frechheit und Unverschämtheit das Feld beherrschten, wappnete er sich mit seinem Mut und faßte den Entschluß, die Schurken sollten niemals das Mädchen genießen, oder er müßte bei seiner Verteidigung sterben. Endlich drang einer der vier vor und schlug mit seinem Stock an die Tür des Zimmers, und die andern folgten ihm und wurden kräftig vom Ritter zurückgewiesen. Und so begann die Schlacht, die ziemlich lange dauerte. Obwohl die beiden Parteien ungleich waren, besiegte und schlug der gute Ritter die vier Schurken zurück; als er sie verfolgte und nach unten jagte, wandte sich einer von ihnen, der ein Schwert besaß, plötzlich um, stieß es dem Ritter in den Magen und bohrte es durch und durch, so daß er sofort tot niedersank, worüber sie sehr erfreut waren. Danach ward der Wirt von ihnen zur Flucht genötigt und gezwungen, sich auf dem Feld oder im Garten des Hauses zu verbergen, ohne daß er Lärm zu schlagen wagte, sonst wollten sie ihn, wie sie drohten, töten.

Als der Ritter dahin war, klopften sie an das Zimmer, in dem das Mäddien sehr bekümmert ob des Ausbleibens ihres Geliebten weilte, und schlugen die Tür ein. Sobald sie die Kerle eintreten sah, dachte sie, der Ritter sei tot, und rief: »Ach, wo ist denn mein Schutz: Wo ist meine einzige Zuflucht? Was ist aus ihm geworden? Weshalb läßt er mich so ganz allein?«

Als die Schurken sie so erregt sahen, meinten sie, durch freundliche Worte sie täuschen zu können und sagten, der Ritter sei in einem Haus und lasse ihr sagen, sie solle mit ihnen dorthin gehen, wo sie weit sicherer sei. Doch sie wollte nichts davon glauben, denn das Herz sagte ihr unaufhörlich, sie hätten ihn getötet und gemordet. Deshalb ward sie noch erregter als vorher und schrie noch kräftiger.

»Was soll das heißen«, fragten sie, »daß du dich so sonderbar aufführst? Meinst du, wir kennten dich nicht? Wenn du fürchtest, dein Kuppler sei tot, so hast du ganz recht, wir haben das Land von ihm befreit, du kannst ganz sicher sein, daß wir dich alle vier besitzen werden.« Und bei diesen Worten trat der eine von ihnen vor, griff sie plump und sagte, er werde sie, ehe sie ihm entschlüpfe, genießen, mochte sie nun wollen oder nicht.

Als das arme Mädchen sich so schändlich behandelt sah und merkte, daß ihm seine freundlichen Worte nichts nutzten, sagte es zu ihnen: »Da ihr einen so schändlichen Willen habt, ihr Herren, und keine demütige Bitte euch von ihm abbringen kann, so beobachtet doch wenigstens den Anstand, wenn ich mich schon euch überlassen muß, daß ich nicht in Gegenwart der andern mich einem hingebe.«

Sie bewilligten ihr, obwohl sehr ungern, die Bitte und ließen sie dann den von ihnen vier, der bei ihr bleiben sollte, wählen. Sie nahm den von ihnen, den sie für den umgänglichsten und freundlichsten hielt, aber er war von allen der schlimmste.

Das Zimmer ward geschlossen, und gleich nachher warf sich das junge Mädchen zu den Füßen des Schurken und bat ihn, Mitleid mit ihm zu haben. Er aber beharrte in seiner Bosheit und erklärte, er wolle sein Gelüst bei ihr stillen. Als sie ihn so hart und grausam sah und ihr ihre demütige Bitte nichts half, sagte sie ihm: »Nun wohl, da es so sein muß, will ich mich fügen, aber schließt, darum bitte ich Euch, die Fenster, damit wir in größerer Heimlichkeit beisammen sind.«

Er tat es sehr widerwillig, und während er sie schloß, nahm das Mädchen ein kleines Messerchen, das es am Gürtel hängen hatte, durchschnitt sich die Kehle und gab den Geist auf. Als der Schurke sie tot auf der Erde liegen sah, floh er mit seinen Genossen davon. Man kann annehmen, daß sie gestraft worden sind, wie es der schreckliche Fall forderte. So endeten die beiden treuen Liebenden, einer bald nach dem andern, ihre Tage, ohne die heitere Lust, die sie zeit ihres Lebens genießen zu können glaubten, kennengelernt zu haben.

 


 


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