Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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86. Novelle
Ein Eheprozeß

In der guten Stadt Rouen lebte vor einiger Zeit ein junger Mann, der sich mit einem zarten, jungen, ungefähr fünfzehnjährigen Mädchen verheiratet hatte. Am Tage des hohen Festes, nämlich der Hochzeit, belehrte die Mutter dieses Mädchens, um nach hergebrachtem Brauch an solchem Tag die Unterweisung zu geben, die Braut und erklärte ihr, wie sie sich in der ersten Nacht bei ihrem Mann verhalten sollte.

Das schöne Mädchen, dem die Nacht, für die es die guten Lehren empfing, lange auszubleiben schien, gab sich große Mühe und zeigte großen Eifer, die Lektion seiner Mutter zu behalten, und es meinte, wenn die Stunde gekommen sei, in der es nach den Lehren handeln sollte, werde sein Mann es loben und mit ihm sehr zufrieden sein.

Die Hochzeit ward unter großen Feierlichkeiten gebührend begangen, und die ersehnte Nacht kam. Gleich nach Ende des Festes zogen sich die jungen Leute zurück und verabschiedeten sich vom Bräutigam und von seiner Dame; die gute Mutter, die Basen, Nachbarinnen und die anderen befreundeten Frauen nahmen unsere Braut und führten sie in das Zimmer, wo sie in der Nacht bei ihrem Mann liegen sollte, halfen ihr ihren Putz und Schmuck ablegen und hießen sie dann, wie es billig war, sich ins Bett zu legen.

Nun wünschten sie ihr gute Nacht, und die eine sagte: »Liebe Freundin, Gott schenke Euch Lust und Freude an Eurem Mann, und haltet Euch so bei ihm, daß es für eure beiden Seelen von Frommen ist.« Und eine andere sagte: »Liebe Freundin, Gott schenke Frieden und Eintracht mit Eurem Mann, daß alle eure Werke von den himmlischen Heiligen gelobt werden sollen.« Und so sagte jede ihren Spruch und verließ das Zimmer.

Die Mutter, die bis zuletzt blieb, rief ihrer Schülerin die Lehren und die ihr gestellte Aufgabe ins Gedächtnis zurück und bat sie, an sie denken zu wollen. Und die gute Tochter, die, wie man gewöhnlich sagt, das Herz auf dem rechten Fleck hatte, antwortete, sie erinnere sich alles dessen ganz genau und habe es, Gott sei Dank, gut behalten.

»Das ist wohlgetan«, erklärte die Mutter, »nun verlasse ich Euch und empfehle Euch der Gnade Gottes, den ich bitte, es Euch wohlergehen zu lassen. Lebt wohl, mein schönes Kind.«

»Lebt wohl, lebt wohl, gute, kluge Mutter.«

Sobald die Schulmeisterin das Zimmer verlassen hatte, trat unser Gatte, der an der Tür nur darauf gewartet hatte, ein, und die Mutter schloß die Tür zu und bat ihn, mit ihrer Tochter verständig umzugehen. Er versprach es auch, und sobald die Tür geschlossen war, warf er sein Wams - mehr hatte er nicht am Leibe - ab, sprang auf das Bett und rückte seiner Dame, die Lanze in der Hand, dicht an den Leib und bot ihr die Schlacht an. Als er sich der Grenze nahte, wo das Scharmützel stattfinden sollte, faßte und packte die Dame die Lanze, die wie ein Kuhhorn aufrecht stand, und sobald sie sie so hart und kräftig gefunden, schrie sie auf und erklärte, ihr Schild sei nicht stark genug, um den Angriff einer so kräftigen Waffe auszuhalten.

Was auch immer unser Mann tun mochte, es gelang ihm nicht, an diesen Schild und zu diesem Lanzenstechen zu gelangen. Die Nacht ging fruchtlos dahin, was unsern Bräutigam sehr verdroß, doch faßte er sich in Geduld, da er hoffte, es werde ihm in der nächsten Nacht besser gelingen. Doch es kam nicht anders als in der ersten, und so war es auch in der dritten, vierten bis zur fünfzehnten Nacht, in der, wie ich euch erzählen will, der Waffengang endlich vollendet ward.

Als dreizehn Tage nach der Hochzeit vorübergegangen waren, ohne daß unsere beiden jungen Leute die Ehe vollzogen hatten, kam die Mutter auf Besuch zu ihrer Schülerin und fragte sie, nachdem sie von hunderttausend Dingen gesprochen hatten, was ihr Gatte für ein Mensch sei und ob er wohl seine Pflicht tue. Und die Tochter erklärte, er sei ein sehr guter, freundlicher, friedfertiger Mann.

»Tut er auch«, fragte die Mutter, »was man tun muß?«

»Ja«, erklärte die Tochter, »aber ... «

»Was für Aber? Dahinter steckt irgend etwas, ich merke es wohl. Sagt es mir, und verbergt es mir nicht. Vermag er zu erfüllen, was man von ihm verlangen kann, wozu er in der Ehe verpflichtet ist und worüber ich Euch aufgeklärt habe?«

Das gute Mädchen ward so lange bedrängt, bis es erklären mußte, er habe noch nichts in ihrer Werkstatt geschafft; doch verschwieg sie, daß sie selbst daran Schuld trug und stets das Turnier verweigert hatte.

Als die Mutter diese schmerzliche Kunde vernahm, machte sie Gott weiß was für ein Wesen und erklärte bei allen guten Göttern, bald Abhilfe schaffen zu wollen. Sie kenne sehr gut den Herrn Offizial von Rouen, er sei ihr Freund und werde ihr zu ihrem guten Recht verhelfen. »Es geht nicht anders, liebe Tochter, Ihr müßt geschieden werden. Ich zweifle nicht, daß ich es durchsetzen kann. Ihr könnt versichert sein, daß Ihr von heute in zwei Tagen geschieden seid, und ich werde Euch einen andern Mann verschaffen, der Euch nicht so ungeschoren lassen wird. Laßt mich nur machen!«

Die gute Frau kam halb von Sinnen nach Haus und erzählte ihrem Mann, dem Vater des besagten Mädchens, von diesem großen Unglück und erklärte ihm, sie hätten ihre Tochter ins Unglück gebracht, führte ihm die Gründe an, wodurch und wie, und schloß endlich mit den Worten: »Wir müssen sie scheiden lassen.«

Sie wußte den Fall so gut darzustellen, daß sie den Mann auf ihre Seite zog und er damit einverstanden war, daß man unsern Neuvermählten, der keine Ahnung davon hatte, daß man sich über ihn grundlos beklagte, vorladen ließ. Er ward also gleichwohl auf Ansuchen seiner Frau persönlich vor den gnädigen Fiskal geladen, und es ward ihm vom gnädigen Herrn Offizial erklärt, er müsse seine Frau verlassen und ihr die Erlaubnis, sich mit einem andern zu verheiraten, geben oder die Gründe und Ursachen mitteilen, weshalb er während all der Tage, die er mit ihr zusammengewesen sei, sich nicht als Mann wie die andern gezeigt und das, was sich für die verheirateten Männer gehöre, getan habe.

Als der Tag gekommen war, stellten sich die Parteien zur festgesetzten Zeit und am bestimmten Ort ein; sie wurden aufgefordert, den Streitfall darzustellen und ihre Sache zu verteidigen. Die Mutter der Neuvermählten begann zu erzählen, wie es ihrer Tochter ergangen sei, und Gott weiß, wie sie alle Gesetze anführte, an die man sich in der Ehe halten muß, denen ihr Schwiegersohn nicht nachgekommen sei und nach denen er sich nicht gerichtet habe. Deshalb ersuchte sie, ihre Tochter, und zwar sofort und ohne langen Prozeß, zu scheiden. Der gute junge Mann war sehr erstaunt, als er so seine Waffen schmähen hörte, säumte nicht, auf die Beschuldigungen seiner Gegnerin zu antworten, und erzählte kalt und gelassen, wie es gewesen sei und wie seine Frau, wenn er seiner Pflicht nachzukommen wünschte, ihn stets zurückgewiesen habe.

Als die Mutter die Entgegnung vernahm, ward sie noch viel betrübter als vorher, fragte, obwohl sie es kaum glauben konnte, ihre Tochter, ob das, was ihr Mann erwidert habe, wahr sei, und die erklärte: »Ja, Mutter, so ist's.«

»Ach, Ihr UnglückIiche«, rief die Mutter, »weshalb habt Ihr ihn denn zurückgewiesen, was habe ich Euch denn oft genug erklärt und dargetan? Habe ich Euch dazu diese Lehren gegeben?«

Das arme Mädchen wußte nicht, was es sagen sollte, so betrübt und beschämt war es. »Ich will aber den Grund wissen«, sagte die Mutter, »weshalb Ihr ihn zurückgewiesen habt, wenn Ihr mich nicht arg gegen Euch aufbringen wollt; ich muß wissen, weshalb Ihr Eurem Mann nicht habt nachgeben wollen.«

Die Tochter beichtete alles und erklärte offen, sie habe, weil sie die Lanze ihres Kämpfers so stark gefunden, ihm nicht ihren Schild entgegenzuhalten gewagt, aus Angst, er könnte sie töten, und sie fürchtete es auch jetzt noch und wollte nicht von dieser Furcht lassen, obwohl ihre Mutter ihr sagte, sie habe nichts davon zu fürchten. Darauf wandte sie sich an den Richter: »Gnädiger Herr Offizial, Ihr habt das Bekenntnis meiner Tochter und die Verteidigung meines Schwiegersohns vernommen; ich bitte Euch, erwägt den Fall und gebt Euer endgültiges Urteil ab!«

Der gnädige Herr Offizial ließ behufs der Urteilssprechung in seinem Haus ein Bett aufdecken, ordnete von Gerichts wegen an, die beiden Vermählten sollten dort beisammenliegen, und riet der jungen Frau, nur fröhlich die Turnierlanze zu ergreifen und an den gehörigen Ort zu bringen.

Als der Spruch verkündet war, erklärte die Mutter: »Herzlichen Dank, gnädiger Herr Offizial, Ihr habt trefflich geurteilt. Vorwärts, liebe Tochter, tut, was Ihr tun müßt, und hütet Euch, dem Spruch des gnädigen Herrn Offizials zuwiderzuhandeln. Bringt die Lanze an den gehörigen Platz!«

»Ich bin's auch zufrieden«, sagte die Tochter, »sie dorthin zu bringen und zu setzen, und würde sie, selbst wenn sie dort vermodern müßte, nicht mehr herausziehen.«

Damit verließen sie den Gerichtssaal und gingen ohne Gerichtsbeamten an die Vollstreckung des Spruchs des gnädigen Herrn Offizials, denn sie selbst vollzogen das Urteil. Und auf diese Weise brachte unser Schwiegersohn das Turnier zu Ende, was ihn viel mehr ermüdete, als die, die nichts davon hatte hören wollen.

 


 


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