Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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57. Novelle
Der nachgiebige Bruder

Wenn man mir Gehör schenkt und kein anderer augenblicklich an dem ruhmvollen und erbaulichen Werk dieser hundert Novellen arbeiten will, will ich eine Geschichte erzählen, die sich jüngst in der Dauphinée zugetragen hat und die man diesen Novellen zuzählen und einfügen kann. Ein Edelmann in der Dauphinée nämlich hatte in seinem Hause seine Schwester, die ungefähr achtzehn bis zwanzig Jahre alt war. Und sie leistete seiner Frau Gesellschaft, die sie sehr liebte und wert hielt, und sie lebten so gut zusammen wie zwei Schwestern, die aneinander hängen und sich gut vertragen.

Nun geschah es, daß dieser Edelmann von einem seiner Nachbarn, der zwei kleine Meilen von ihm entfernt wohnte, samt seiner Frau und Schwester eingeladen ward. Sie begaben sich dorthin, und Gott weiß, daß sie freundlich aufgenommen wurden. Die Frau dessen, der die Gesellschaft bei sich bewirtete, unterhielt die Frau und Schwester unsers Edelmanns sehr gut, und nach der Abendmahlzeit gingen sie unter mancherlei Gesprächen zu dem Häuschen des Schäfers des Hauses, der in der Nähe eines weiten und großen Parks die Schafe auf die Weide getrieben hatte, und fanden dort den Meister Schäfer seinem Geschäft obliegen. Und da Frauen gar mancherlei Dingen nachforschen müssen, fragten sie unter anderm auch, ob es in seinem Haus nicht kalt wäre. Er antwortete: »Nein!« und erklärte, ihm gehe es viel besser und angenehmer als denen, die ihre schönen Zimmer mit Matten und Teppichen belegt und mit gläsernen Fenstern versehen hätten. Und ein Wort gab das andere, und schließlich kamen sie verblümt auf die Liebe zu sprechen. Und der gute Schäfer, der nicht auf den Kopf gefallen und nicht dumm war, erklärte ihnen, er unterfinge sich, bei Gottes Tod, wohl acht, oder neunmal in der Nacht das Geschäft zu besorgen. Und die Schwester unsers Edelmanns, die das hörte, warf oft und verstohlen die Augen nach diesem Schäfer, und sie ruhte auch nicht eher, als bis sie die Gelegenheit gefunden hatte, ihm zu sagen, er möchte sie doch in dem Hause ihres Bruders aufsuchen, und sie würde ihn herzlich willkommen heißen. Der Schäfer, der in ihr ein schönes Mädchen sah, war über diese Worte nicht wenig erfreut und versprach ihr, sie aufzusuchen. Und nach kurzer Zeit kam er seinem Versprechen nach und fand sich vor ihrem Hause bei einem hohen und schwer zu ersteigenden Fenster ein. Trotzdem gelang es ihm, mit Hilfe eines Stricks, den sie ihm herabließ, und einer dort stehenden Weinlaube in das Zimmer zu kommen, und man braucht nicht zu versichern, daß er gern gesehen ward. Er bewies durch die Tat das, dessen er sich mit dem Munde gerühmt hatte, denn ehe der Tag kam, hatte er dem Hirsch acht vollkommene Hörner aufgesetzt, was seiner Dame sehr willkommen war.

Nun müßt ihr wissen, daß der Schäfer, ehe er zu seiner Dame kommen konnte, zwei Meilen weit gehen und die breite Rhone, deren Wasser an das Haus schlugen, in dem seine Dame wohnte, durchschwimmen mußte. Und wenn der Tag kam, mußte er abermals die Rhone passieren, und so kam er in seine Schäferei zurück. Und dieser Handel ging eine lange Zeit, ohne daß jemand dahinterkam. Währenddessen begehrten mehrere Edelleute des Landes das Fräulein, das eine Schäferin geworden war, zur Ehe. Doch niemand war nach ihrem Geschmack, was ihrem Bruder gar nicht recht war, und er sagte es ihr auch oft. Doch sie hatte stets Ausreden und Antworten in Hülle und Fülle bei der Hand, erzählte davon ihrem Freunde, dem Schäfer, und versprach ihm eines Abends, keinen andern als ihn, wenn er wolle, zum Mann zu nehmen. Und er erwiderte, er wünsche nichts Besseres. »Doch die Sache«, sagte er, »wird sich wegen Eures Bruders und Eurer Freunde nicht ausführen lassen.«

»Laßt Euch das nicht kümmern!« versetzte sie, »laßt mich nur machen, ich werde die Sache schon zu einem guten Ende führen.« So versprach einer dem andern.

Nun kam ein Edelmann und bewarb sich eifrig um unser Fräulein Schäferin und begehrte sie nur mit den Kleidern und Gewändern, die ihrem Stande zukamen, versehen, sonst nichts. Ihr Bruder wäre gern damit einverstanden gewesen und dachte die Zustimmung seiner Schwester zu gewinnen, indem er das, was man bei solchen Gelegenheiten zu sagen pflegt, vorbrachte. Aber er konnte nicht an sein Ziel kommen und war deshalb sehr unzufrieden.

Als sie ihren Bruder gegen sich aufgebracht sah, zog sie ihn beiseite und sagte ihm: »Lieber Bruder, Ihr habt mich oft gedrängt und mir vorgepredigt, ich soll mich mit dem und dem verheiraten, und ich habe mich niemals dazu verstehen wollen. Zürnt mir bitte deshalb nicht und wollet mir den Ärger, den ich Euch bereitet habe, vergeben. Und ich will Euch den Grund sagen, der mich dazu bewog und dazu zwingt; doch versprecht mir bitte, mir kein Leids anzutun.«

Ihr Bruder versprach es sehr gern.

Da sie sich gesichert sah, erklärte sie ihm, sie wäre so gut wie verheiratet und würde zeit ihres Lebens keinen andern zum Mann nehmen als den, den sie ihm, wenn er wolle, in dieser Nacht zeigen würde.

»Ich will ihn gern sehen«, versetzte er, »aber wer ist es?«

»Ihr werdet ihn schon zeitig genug sehen«, erklärte sie.

Als die gewöhnliche Stunde kam, seht, da fand sich der gute Schäfer im Zimmer seiner Dame ein, Gott weiß wie naß, hatte er doch eben den Fluß durchschwommen; und ihr Bruder betrachtete ihn und erkannte in ihm den Schäfer seines Nachbarn. Darob war er nicht wenig erstaunt, und der Schäfer noch viel mehr, er wollte sogar fliehen, als er den Edelmann sah.

»Bleib, bleib!« rief dieser, »du brauchst keine Angst zu haben. Ist er es«, fragte er seine Schwester, »von dem Ihr mir gesprochen habt?«

»Ja, lieber Bruder«, erklärte sie.

»Dann macht ihm«, sagte er, »ein gutes Feuer, damit er sich wärmen kann, denn er hat es sehr nötig, und kümmert Euch ordentlich um ihn. Ihr habt wahrhaftig nicht so unrecht, wenn Ihr ihm wohlgesinnt seid, denn er setzt sich aus Liebe zu Euch großer Gefahr aus. Wenn es so um Euch steht und Ihr Lust habt, ihn zu Eurem Mann zu nehmen, so werde ich Euch nicht hinderlich sein, und verwünscht sei, wer Euch Schwierigkeiten macht.«

»Amen«, entgegnete sie, »ich möchte es morgen schon.«

»Schön«, versetzte er. »Und Ihr, was sagt Ihr dazu?«

»Mir ist alles recht.«

»Abgemacht!« versetzte er. »Dann seid und bleibt Ihr mein Bruder. Habe ich vorher schon ein leichtfertiges Mädchen zur Schwester gehabt, so darf ich nun wohl einen Schäfer meinen Bruder nennen.«

Um die Geschichte vom Schäfer kurz zu machen: der Edelmann willigte in die Heirat seiner Schwester und des Schäfers, sie ward vollzogen, und er behielt sie alle beide in seinem Haus, obwohl man sich im Lande darüber genug aufhielt. Und wenn das Gespräch darauf kam und man meinte, es sei doch wunderbar, daß er den Schäfer nicht geprügelt oder getötet habe, so antwortete er, er habe um keinen Preis dem, den seine Schwester liebte, ein Leids antun können und viel lieber - dem Wunsch seiner Schwester willfahrend - den Schäfer zum Schwager genommen als einen andern großen Herrn, der ihr nicht gefallen hätte. Und all das sagte er aus Scherz und Neckerei, denn er war und ist stets ein freundlicher, spaßiger und sehr lustiger Geselle. Und es machte ihm viel Vergnügen, besonders im Kreise seiner Freunde und vertrauten Genossen, von seiner Schwester zu sprechen.

 


 


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