Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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54. Novelle
Die rechte Stunde

Ein edler, angesehener, junger Ritter aus der Grafschaft Flandern, ein guter Turnierer, Tänzer und tüchtiger Sänger, weilte im Lande Hennegau in der Gesellschaft eines andern, edlen, gleich ausgezeichneten Ritters und blieb in diesem Lande, das ihm viel mehr als Flandern, wo er sein gutes, schönes Haus hatte, behagte. Wie es oft geschieht, hielten ihn Liebeshändel zurück, denn er hatte sich in ein Fräulein aus Maubeuge gründlich vergafft, und Gott weiß, was er alles deswegen anstellte. Sehr oft turnierte er, trieb Mummenschanz, veranstaltete Gastmähler und tat überhaupt alles, was in seinen Kräften stand und seiner Dame, wie er dachte, gefallen könnte. Er erfreute sich auch bald ziemlicher Gunst bei ihr, doch nicht in dem Maße, wie er es gewünscht hätte. Sein Gefährte, der Ritter aus dem Hennegau, der genau wußte, wie es um ihn stand, nahm sich seiner nach besten Kräften an, und es lag nicht an seinem Eifer, wenn es um die Angelegenheit seines Freundes nicht besser und gründlicher stand.

Was soll man davon lange erzählen? Der gute Ritter aus Flandern und ebenso sein Genosse vermochten es nicht dahin zu bringen, daß er von seiner Dame den süßen Dankeslohn erhalten konnte. Im Gegenteil, wenn er die Sprache auf diese Dinge brachte, fand er sie stets streng und zurückhaltend. Nun ward er, während es so, wie ihr gehört habt, um ihn stand, jedoch gezwungen, nach Flandern zurückzukehren. Daher verabschiedete er sich freundlich von seiner Dame, ließ ihr seinen Gefährten und versprach auch, wenn er nicht in kurzem zurückkäme, ihr oft zu schreiben und Botschaft von seinem Befinden zu schicken. Und sie ihrerseits gab ihm das Versprechen, von sich ihm ebenfalls Nachricht zukommen zu lassen. Eine Weile, nachdem unser Ritter nach Flandern zurückgekehrt war, ward seine Dame von dem Wunsche erfüllt, eine Wallfahrt zu machen, und traf dazu ihre Vorbereitungen.

Als der Wagen vor ihrem Hause stand, warf sie dem Kutscher, der sich darin befand, um ihn in Bereitschaft zu setzen, und der ein hübscher Bursche war und ihr sehr gut gefiel, ein Kissen an den Kopf, so daß er niederfiel, und sie begann darüber von ganzem Herzen laut zu lachen. Der Kutscher erhob sich und sagte, als er sie lachen sah: »Bei Gott, Mademoiselle, Ihr habt mich niedergeworfen, doch dürft Ihr's glauben, daß ich mich wohl rächen werde, denn noch ehe die Nacht kommt, werde ich Euch niederwerfen.«

»Ihr werdet doch nicht so böse sein«, entgegnete sie. Und bei diesen Worten nahm sie ein anderes Kissen, warf es, so daß der Kutscher, der nicht achtgegeben hatte, wie vorher vornüber fiel. Und hatte sie erst schon herzlich gelacht, so lachte sie jetzt noch viel toller.

»Was soll das heißen?« rief der Kutscher, »was wollt Ihr denn von mir, Mademoiselle? Wäre ich bei Euch, so würde ich mich wahrhaftig sofort an Euch rächen!«

»Was würdet Ihr denn tun?« fragte sie.

»Wäre ich oben, so würde ich es Euch sagen«, erklärte er.

»Es wird wunder was sein«, meinte sie, »aber Ihr habt ja Angst hinaufzukommen.«

»Ganz und gar nicht, ihr sollt es schon sehen«, versetzte er.

Er sprang vom Wagen, trat ins Haus und stieg die Treppe hinauf bis zu dem Zimmer, in dem das ausgelassene Fräulein, mit einem einfachen Rock angetan, weilte. Er begann sie anzuspringen, und um es kurz zu machen, sie war's zufrieden, daß er ihr nahm, was sie ihm aus Anstand nicht geben konnte.

Wie das geschehen war, gebar sie nach der gewöhnlichen Zeit einen hübschen kleinen Kutscher oder, um mich besser auszudrücken, einen hübschen kleinen Jungen. Die Sache wurde nicht so geheimgehalten, daß der Ritter aus dem Hennegau sie nicht alsbald erfahren hätte, und er war darüber sehr erstaunt. Er schrieb eilig seinem Genossen nach Flandern, seine Dame hätte von einem Kutscher ein Kind empfangen, und sandte den Brief durch einen eigenen Boten.

Ihr könnt euch denken, daß der andere über diese Nachricht sehr verwundert war. Nicht lange danach kam er zu seinem Genossen nach dem Hennegau und sagte ihm, sie wollten seine Dame aufsuchen und er möchte sie tüchtig schelten und ihr seine Meinung darüber sagen, daß sie so häßlich und nichtsnutzig an ihm gehandelt habe. Obwohl sie sich wegen ihres Unglücks jetzt verbarg, fanden die beiden Ritter doch Mittel und Wege, den Ort, an dem sie weilte, zu erkunden. Sie schämte sich sehr und war ob ihrer Ankunft ganz und gar nicht erfreut, wußte sie doch, daß sie von ihnen nichts Angenehmes zu hören bekommen würde. Sie suchte sich aber zu fassen und empfing sie, so gut sie es vermochte. Sie begannen von dem und dem zu reden, und unser guter Ritter aus Flandern machte sich an seine Aufgabe und sagte ihr so viel Schlechtes, wie er konnte. »Nun seid Ihr«, erklärte er, »die verwerflichste und ehrloseste Frau, die es auf der Welt gibt, und habt bewiesen, was Ihr für ein schlechtes Herz habt, da Ihr Euch einem elenden, häßlichen Kutscher überließt. So viele anständige Leute haben Euch ihre Dienste angetragen, und Ihr habt sie alle abgewiesen. Was ich getan habe, um Eure Gunst zu erlangen, wißt Ihr. War ich denn nicht der Mann, der diesen Lohn viel eher verdient hätte als ein schmutziger Kutscher, der nie etwas für Euch getan hat?«

»Ich bitte Euch, Herr«, versetzte sie, »sprecht mir nicht mehr davon! Geschehene Dinge lassen sich nicht ändern. Aber ich erkläre Euch, wärt Ihr in der Stunde gekommen, in der der Kutscher kam, so hätte ich für Euch ebensoviel getan wie für ihn.«

»So«, rief er, »bei Sankt Johann, er kam wirklich zur rechten Zeit, der Teufel soll's holen, daß ich nicht so glücklich war und Eure Stunde gewußt habe.«

»Ganz gewiß«, entgegnete sie, »er kam zur richtigen Stunde.«

»Zum Teufel«, schrie er, »mit Eurer Stunde, mit Euch, mit Eurem Kutscher!« Und damit ging er weg, und sein Genosse folgte ihm, und seitdem ward von dieser Sache, und mit gutem Grunde, nicht mehr gesprochen.

 


 


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