Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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19. Novelle
Das Kind aus Schnee

Der brennende Wunsch, fremde Länder zu sehen und viele Erfahrungen, wie man sie in der ganzen Welt jeden Tag machen kann, zu sammeln, entzündete so heftig das fromme Herz und den tugendsamen Mut eines guten, reichen Kaufmanns zu London, daß er seine schöne, gute Frau, seine schöne Kinderschar, Verwandte, Freunde, Erbgüter und den größten Teil seines Besitztums verließ und aus diesem Königreiche reiste, mit barem Geld und einer großen Menge von Waren wohl versehen, mit denen England andere Länder versorgen kann, wie Zinn, Reis und viele andere Sachen, die ich der Kürze wegen übergehe.

Auf dieser ersten Reise verbrachte der gute Kaufmann fünf Jahre, währenddessen seine treffliche Frau wohl ihren Leib hütete, ihren Nutzen von vielen Waren zog und sich so gut aufführte, daß ihr Mann, als er nach diesen fünf Jahren heimkam, sie sehr lobte und noch mehr als früher liebte. Das Herz des Kaufmanns gab sich aber noch nicht damit zufrieden, so viel gesehen und viele merkwürdige und wunderbare Dinge kennengelernt und reichen Gewinn davongetragen zu haben: fünf oder sechs Monate nach seiner Rückkehr vielmehr bestieg er abermals das Schiff und zog wieder auf gut Glück aus in fremde christliche wie sarazenische Lande und blieb so lange weg, daß zehn Jahre vergingen, ehe er seine Frau wiedersah. Er schrieb ihr recht viel und ziemlich oft, damit sie wisse, daß er noch am Leben sei.

Sie war jung und wohlgestalt, und ihr fehlte nichts von den Gaben Gottes, außer daß ihr Mann nicht daheim war, und infolge seines allzu langen Ausbleibens ward sie genötigt, einen Stellvertreter anzunehmen, der ihr in kurzer Zeit einen sehr hübschen Jungen machte.

Dieser Sohn ward mit seinen anderen Brüdern aufgezogen und genährt, und bei der Rückkehr des Kaufmanns, des Gatten seiner Mutter, war er ungefähr sieben Jahre. Die Freude bei dieser Heimkehr war zwischen Mann und Frau groß, und als sie heiter und vergnügt miteinander plauderten, ließ die gute Frau nach dem Wunsche ihres Mannes alle ihre Kinder vor sich kommen, ohne das zu vergessen, welches sie in der Abwesenheit desjenigen, dessen Namen es trug, gewonnen hatte.

Als der gute Kaufmann die schöne Schar seiner Kinder betrachtete und sich recht gut erinnerte, wieviel es bei seiner Abreise gewesen waren, sah er sie um eins gewachsen, worüber er sehr erstaunt und verwundert war. Daher fragt er seine Frau, wer dieser hübsche Junge, der letzte in der Schar ihrer Kinder, sei.

»Wer es ist?« antwortet sie, »bei meiner Treu, Herr, es ist unser Sohn. Wer sollte es sonst sein?«

»Ich weiß nicht«, erwidert er, »doch da ich ihn vorher noch nie gesehen habe, dürft Ihr Euch nicht wundern, wenn ich danach frage.«

»Sankt Johann«, erklärt sie, »ganz und gar nicht, doch ist's unser Sohn!«

»Und wie geht das zu«, fragt der Mann, »Ihr wart doch nicht schwanger, als ich auf die Reise ging?«

»Nein, wahrhaftig«, versetzt sie, »nicht, daß ich wüßte, doch muß ich Euch der Wahrheit gemäß sagen, das Kind gehört Euch, und kein anderer als Ihr hat mich berührt!«

»Das sage ich auch nicht«, meint er, »doch gleichwohl sind's zehn Jahre her, daß ich abreiste, und dies Kind zählt sieben. Wie kann es also mein Kind sein? Solltet Ihr es länger als ein anderes getragen haben?«

»Bei meinem Eide«, erwiderte sie, »ich weiß es nicht, doch alles, was ich sage, ist wahr. Ob ich's länger als ein anderes getragen habe, weiß ich nicht, und wenn Ihr es mir vor der Reise nicht machtet, kann ich mir nicht denken, woher ich es habe, außer - ziemlich bald nach Eurer Abreise war ich eines Morgens in unserm großen Garten, wo mich plötzlich das Gelüst ankam, ein Blatt vom Sauerampfer zu essen, der damals unter der Schneedecke begraben war. Ich suchte mir eins, ein hübsches, breites, das ich essen wollte, doch war's nur ein wenig weißer, harter Schnee. Und ich hatte es kaum gegessen, als ich mich genau in demselben Zustand fühlte, wie da ich mit meinen anderen Kindern schwanger ging. Eine Weile danach habe ich Euch diesen hübschen Sohn geschenkt!«

Der Kaufmann erkannte sogleich, daß er nach Horndorf geschickt war, wollte sich's aber nicht anmerken lassen, sondern bestätigte sogar noch durch seine Worte die hübsche Lüge seiner Frau und sagte: »Liebe Freundin, Ihr sprecht von etwas, das nicht unmöglich und schon anderen Leuten als Euch begegnet ist. Gelobt sei Gott für das, was er uns geschickt hat. Wenn er uns ein Kind durch ein Wunder oder sonst auf geheimnisvolle Art, die wir nicht ergründen können, gegeben hat, so hat er auch nicht vergessen, uns den Besitz zu schenken, um es unterhalten zu können!«

Als die gute Frau sah, daß ihr Mann ihren Worten scheinbar Glauben schenkte, war sie nicht wenig erfreut. In den zehn Jahren, die der kluge und bedachtsame Kaufmann daheim weilte, ohne weite Reisen zu machen, betrug er sich in Worten und auch sonst gegen seine Frau dermaßen, daß sie denken mußte, er wisse nichts von ihrer Tat, so vorsichtig und geduldig war er. Er hatte aber noch nicht genug vom Reisen, wollte abermals fort und sagte zu seiner Frau, die darüber sehr betrübt und damit sehr unzufrieden schien: »Beruhigt Euch nur«, entgegnete er, »wenn's Gott und dem Herrn Sankt Georg gefällt, komme ich in Kürze heim. Und da unser Sohn, den Ihr während meiner andern Reise gebart, schon groß, gewandt und wohl fähig zu sehen und zu lernen ist, will ich ihn, wenn's Euch recht ist, mit mir nehmen!«

»Meiner Treu«, versetzte sie, »Ihr tut gut daran, ich bitte Euch darum!«

»So soll's denn sein«, sagte er. Damit scheidet er und nimmt den Sohn, dessen Vater, was er nie vergessen hatte, er nicht war, mit sich. Sie hatten so guten Wind, daß sie in den Hafen von Alexandria kamen, wo der gute Kaufmann den größten Teil seiner Waren absetzte; er war nicht so dumm, sich noch länger mit dem Kind seiner Frau und eines andern, das nach seinem Tode in seinen Gütern ihm nachgefolgt wäre wie seine andern Kinder, abzuschleppen; daher verkaufte er es als Sklaven für gutes bares Geld. Und da es jung und kräftig war, erhielt er für es beinahe hundert Dukaten. Danach kam er, Gott sei Dank, heil und gesund nach England zurück. Und es läßt sich nicht sagen, welchen Willkomm seine Frau ihm bot, als sie ihn wohlauf sah. Doch sah sie nicht ihren Sohn und wußte nicht, was sie davon halten sollte. Sie konnte sich nicht lange ihrem Mann gegenüber der Frage enthalten, was er mit ihrem Sohne gemacht habe.

»Ach, liebe Freundin«, erwiderte er, »ich kann es Euch nicht länger verhehlen, es ist ihm sehr schlecht gegangen.«

»Ach, wie, ist er ertrunken?« fragte sie.

»Nein, gewiß nicht, so ist es gekommen: Das ungestüme Meer führte uns gewaltsam in ein Land, wo es so heiß war, daß wir alle ob der großen Glut der Sonne, die auf uns ihre Strahlen herabsandte, zu sterben glaubten. Und als wir eines Tages unser Schiff verlassen hatten und jeder sich eine Grube machte, um sich darin vor der Sonne zu verbergen, löste sich unser guter Sohn, der, Ihr wißt es ja, vom Schnee stammte, in unserer Gegenwart auf dem Sande infolge der großen Sonnenhitze plötzlich auf und ward zu Wasser. Und keinen der sieben Psalme hättet Ihr sagen können, da fand man schon nichts mehr von ihm: so schnell er in die Welt kam, so schnell verschwand er auch. Ihr könnt Euch denken, daß ich darüber sehr betrübt war und noch bin, und ich habe nie unter den Wunderdingen, die ich sah, etwas bemerkt, was mich in größeres Staunen versetzt hätte.«

»Nun denn«, versetzte sie, »da es Gott gefiel, ihn uns zu nehmen, wie er ihn uns gegeben, sei er darob gelobt!«

Ob sie dachte, die Sache habe sich anders zugetragen, berichtet und erwähnt die Geschichte nicht, ausgenommen daß ihr Mann ihr mit gleicher Münze heimzahlte; trotzdem blieb er ein Hahnrei.

 


 


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