Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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48. Novelle
Alles, nur kein Kuß

Ein schmucker Geselle verliebte sich in eine junge Demoiselle, die erst vor kurzem geheiratet hatte. Nachdem er Gelegenheit gefunden hatte, ihre Bekanntschaft zu machen, erzählte er ihr alsbald, wie es um ihn stand, und nach seinen Worten schien er sehr liebeskrank zu sein, und er war auch wirklich von Amors Pfeilen arg getroffen.

Sie war so freundlich, ihm geneigtes Gehör zu schenken, und für das erste Mal konnte er mit der Antwort, die er empfangen, sehr zufrieden von ihr scheiden. War er schon vorher arg von der Liebe ergriffen, so ward er es noch viel mehr, als er sich ihr erklärt hatte; er schlief weder Tag noch Nacht, er mußte ja an seine Dame denken und auf Mittel und Wege sinnen, ihrer Gunst teilhaftig zu werden. Er suchte sie alsbald wieder auf, und Gott weiß, daß, wenn er schon beim erstenmal gut die Worte zu setzen gewußt hatte, er es beim zweitenmal noch viel besser verstand. Und er hatte das Glück, seine Dame seiner Bitte geneigt zu finden, worüber er nicht wenig erfreut war. Da er nicht immer Zeit und Muße hatte, sich bei ihr einzufinden, erklärte er ihr dieses Mal, er wolle ihr nach bester Kraft und auf jegliche Weise dienen. Er empfing dafür den Dank derjenigen, die sich von unübertrefflicher Freundlichkeit zeigte. Kurz, er fand sie in Haltung und Sprache so sich geneigt, daß er vernünftigerweise nicht mehr verlangen konnte. Nun dachte er es mit Küssen zu versuchen, doch ward er energisch abgewiesen. Selbst als es ans Abschiednehmen und Lebewohlsagen ging, vermochte er keinen Kuß zu bekommen, worüber er sehr erstaunt war. Und als er darüber nachdachte, fürchtete er sehr, niemals ans Ziel seiner Wünsche kommen zu können, da er ja nicht mal einen einzigen Kuß von ihr erhalten konnte.

Er tröstete sich aber mit den freundlichen Worten, die sie ihm beim Abschied gesagt, und mit der Hoffnung, die sie ihm gemacht hatte. Er besuchte sie wie sonst; und um es kurz zu machen, er ging und kam so oft zu ihr, bis er bei einem Stelldichein unter vier Augen von seiner Dame all das empfing, was sie ihm zu geben imstande war. Darauf nahm er, denn es war Zeit, Abschied von ihr, umarmte sie zärtlich und wollte sie küssen. Doch sie wies ihn kräftig ab und sagte ihm ziemlich schroff: »Weg, weg, laßt mich in Ruh, ich mag nicht geküßt sein!«

Er bat sie, so freundlich er konnte, um Entschuldigung und schied. »Was soll das heißen?« sagte er zu sich, »das hab ich noch bei keiner Frau gefunden. Sie nimmt mich aufs herzlichste auf und hat mir schon alles, worum ich sie zu bitten gewagt habe, gegeben, und doch habe ich noch nicht einen armseligen Kuß bekommen können.«

Als die Stunde wiedergekommen war, begab er sich an den Ort, den ihm seine Dame genannt hatte, und tat alles nach Herzenslust, um deswillen er dorthin gegangen war; denn er ruhte die ganze schöne Nacht in ihren Armen und tat alles, was er wollte, doch küssen durfte er sie nicht, es wäre ihm auch niemals geglückt. »Ich weiß nicht, was das heißen soll«, sagte er zu sich, »diese Frau erlaubt mir, bei ihr zu liegen und alles zu tun, was ich begehre, doch zum Kuß kann ich ebensowenig kommen wie zum wahrhaftigen Kreuz. Bei Gottes Tod, ich kann mir das nicht erklären, dahinter muß etwas stecken. Ich muß es wissen.«

Eines Tags, als er sich mit seiner Dame vergnügte Stunden bereitete und sie beide voller Heiterkeit zusammen waren, sagte er: »Liebe Freundin, ich bitte Euch, sagt mir doch den Grund dafür, daß Ihr mich so streng abweist, wenn ich Euch küssen will. Ihr habt mich so freundlich des Genusses Eures ganzen schönen und anmutigen Leibes teilhaftig werden lassen, und einen kleinen Kuß schlagt Ihr mir ab.«

»Wahrhaftig, lieber Freund«, entgegnete sie, »das ist wahr, den Kuß habe ich Euch verweigert, und macht Euch keine Hoffnung darauf: Ihr werdet nie einen bekommen. Ich habe dafür meinen guten Grund und will ihn Euch sagen. Als ich nämlich meinen Mann heiratete, habe ich ihm mit dem Mund allein so viel schöne Dinge versprochen. Mein Mund hat ihm geschworen und versprochen, ihm gut zu sein, und ich bin die Person, die das halten will, und würde eher sterben als dulden, daß ihn ein anderer berühre. Er gehört ihm und keinem andern, und macht Euch keine Hoffnung, ihn jemals zu küssen. Doch meine Kehrseite hat ihm nichts versprochen und geschworen, macht mit ihr und allem übrigen, was Euch gefällt: ich überlasse es Euch. Nur meinen Mund laßt aus dem Spiel.«

Da begann der andere von ganzem Herzen zu lachen und sagte: »Liebe Freundin, ich danke Euch, Ihr habt trefflich gesprochen, und ich weiß es wohl zu schätzen, daß Ihr Euer Versprechen so gut zu halten versteht.«

»Das wolle Gott nicht«, rief sie, »daß ich dagegen fehle!« So wie ihr's gehört habt, hatte die Frau die Teilung vorgenommen. Der Mann bekam den Mund allein und ihr Freund alles andre. Und wenn der Mann sich zufällig manchmal anderer Glieder bediente, so war das nur leihweise, denn seine Frau hatte sie verschenkt, und sie gehörten ihrem Freunde. Aber er hatte den Vorteil, daß seine Frau nichts dagegen sagte, wenn er das, was sie ihrem Freunde gegeben, entlieh. Doch um keinen Preis hätte sie geduldet, daß der Freund das, was sie ihrem Manne gegeben, genossen hätte.

 


 


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