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Nun hört, wenn es euch beliebt, was in unserer Kastellanei von Lille einem Schäfer und einer jungen Schäferin, die zusammen oder recht nahe beieinander ihre Lämmer weideten, begegnet ist. Es ward einmal auf den Antrieb der Natur, die sie schon in das Alter gebracht hatte, wo man weiß, wie es in der Welt zugeht, folgender Handel zwischen beiden geschlossen: Der Schäfer sollte, um weiter sehen zu können, auf die Schäferin steigen, doch sollte er sie auf keinen Fall weiter einfädeln als bis zu dem Zeichen, das sie mit ihrer Hand an seinem natürlichen Instrument machte und das, den Kopf abgerechnet, ungefähr zwei Finger breit war; und das Zeichen ward durch eine Brombeere, wie sie auf den Hecken wachsen, markiert. Darauf machen sie sich nach Gottes Willen ans Werk, und der gute Schäfer bedrängt sie, als koste es nichts, ohne sich um Marke und Zeichen und sein der Schäferin gegebenes Versprechen zu kümmern, vielmehr barg er alles, was er hatte, bis zum Rest; und hätte er noch mehr gehabt, so hätte er auch dafür recht gut Platz gefunden. Und die schöne Schäferin, die noch niemals an einer solchen Hochzeit teilgenommen hatte, freute sich von ganzem Herzen und hätte niemals mehr etwas anderes tun mögen.
Nach dem Waffengang zogen sich beide gleich zu ihren Lämmern zurück, die sich, da sie nicht behütet waren, ein ganzes Stück entfernt hatten. Sie trieben sie wieder zusammen, und der gute Schäfer machte sich, um sich nach seiner Gewohnheit die Zeit zu vertreiben, zwischen zwei Ästen eine Schaukel, vergnügte sich dort mit dem Wippen und war froher als ein König. Die Schäferin machte sich ein Kränzchen aus Blumen am Rande des Grabens, der ziemlich weit von der Schaukel des Schäfers lag, sang ein hübsches Liedchen und hielt immerfort Umschau, ob er nicht auf den Lockruf wieder zu ihr käme; doch er dachte nicht im geringsten daran.
Da sie ihn nicht kommen sah, begann sie aus Leibeskräften zu rufen: »He, Haquin«, und er antwortete: »Was willst du, was willst du?«
»Komm her, komm her«, schrie sie, »dann will ich dir's sagen.« Doch sie brauchte es nicht zu tun. Haquin, der es wohl wußte und schon genug davon hatte, antwortete ihr: »Im Namen Gottes, ich habe jetzt etwas anderes zu tun und unterhalte mich auf diese Weise«, und er schaukelte immerfort.
Da rief die Dame Schäferin abermals und noch lauter: »Komm her, Haquin, ich werde es dich auch noch weiter tun lassen, ohne eine Marke und ein Zeichen zu machen, und dich ganz gewähren lassen, wie du willst.«
»Sankt Johann«, schrie Haquin, »ich bin schon über das Brombeerzeichen gekommen und habe alles bis auf den Rest geborgen; jetzt sollst du nichts dergleichen mehr haben.« Und damit begann er von neuem zu schaukeln und ließ seine Schäferin ihr Kränzchen machen, sie aber war gar nicht zufrieden damit, daß er sie müßig gehen ließ.