Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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51. Novelle
Die wahren Väter

In Paris lebte vor kurzem eine Frau, die an einen guten, einfältigen Mann verheiratet war, der zeit seines Lebens so gründlich, wie man es nicht gründlicher kann, zu den gehörnten Gatten gehörte. Diese Frau, die in ihrer Jugend schön, schmuck und anmutig war, ward von vielen Leuten, da sie wacker die Augen umgehen ließ, um Liebesgunst angesprochen, und da die Natur sie mit großer Gefälligkeit gesegnet hatte, erhörte sie leicht alle, die ihr wohlgefielen, und sie genossen ihres Leibes, und sie gebar ihnen und ihrem Mann zwölf bis vierzehn Kinder.

Nun geschah es, daß sie in eine sehr schwere Krankheit fiel und auf dem Sterbebett lag. Jetzt hatte sie Zeit und Muße, an die Beichte und an ihre Sünden zu denken und sich mit ihrem Gewissen abzufinden. Während ihrer Krankheit kamen ihre Kinder zu ihr, und sie empfand tiefen Kummer, wenn sie daran dachte. daß sie sie verlassen müsse. Sie meinte, sie täte schlecht, wenn sie ihrem Mann die meisten Kinder zurückließe, da er doch nicht ihr Vater war, obwohl er es glaubte und sie für eine so treffliche Frau wie nur irgendeine andere in Paris hielt. Sie wußte es mit Hilfe einer Frau, die bei ihr die Wache hatte, so einzurichten, daß zwei Männer, die in ihren früheren Tagen zum Liebesgenuß bei ihr sich eingefunden hatten, zu ihr kamen. Sie trafen auch zur günstigen Stunde bei ihr ein, gerade als ihr Mann in die Stadt zu den Ärzten und Apothekern, wie sie es von ihm verlangt und erbeten hatte, gegangen war. Als sie die beiden Männer sah, ließ sie sofort all ihre Kinder kommen und sagte zu dem ersten: »Ihr da wißt wohl, was in früheren Tagen zwischen Euch und mir vorgegangen ist und was ich zu dieser Stunde bitter bereue. Und kommt mir nicht die Barmherzigkeit unseres Herrn, dem ich mich anheimgebe, zugut, so werde ich in der andern Welt darunter sehr schwer zu leiden haben. Doch ich habe nun einmal einen Fehler begangen und weiß es wohl; einen zweiten aber ihm folgen zu lassen, wäre übelgetan. Seht hier die und die von meinen Kindern, sie gehören Euch, mein Mann aber hält sie für die seinen. Mein Gewissen wäre belastet, wenn ich ihn damit beschwerte. Daher bitte ich Euch aus tiefstem Herzen, nehmt sie nach meinem Tode, der bald kommen wird, zu Euch, versorgt, nährt und erzieht sie, und handelt an ihnen, wie es die Pflicht eines guten Vaters ist, denn es sind Eure Kinder.«

Ebenso sprach sie zu dem andern und zeigte ihm ihre andern Kinder. »Die und die gehören Euch, ich versichere es Euch. Ich lege sie Euch ans Herz und bitte Euch, nehmt Euch ihrer an. Wenn Ihr mir das versprechen wollt, werde ich viel leichter sterben können.«

Nachdem sie diese Teilung vorgenommen hatte, kam ihr Mann zurück und ward von einem seiner Kinder, einem kleinen Jungen von ungefähr vier oder sechs Jahren, bemerkt. Der kam schnell herab, eilte ihm voll Bestürzung entgegen und lief so rasch die Treppe hinunter, daß er beinah den Atem verlor. Und als er seinen Vater sah, rief er: »Ach, lieber Vater, kommt nur um Gottes willen schnell!«

»Was gibt's denn Neues?« fragte der Vater. »Ist deine Mutter tot?«

»Nein, nein«, versetzte das Kind, »aber kommt nur schnell nach oben, oder es bleibt Euch kein Kind mehr. Zu meiner Mutter sind zwei Männer gekommen, und sie gibt ihnen alle meine Brüder und Schwestern. Und wenn Ihr nicht schnell kommt, bleibt Euch kein einziges mehr.«

Der gute Mann wußte nicht, was sein Sohn damit sagen wollte, stieg die Treppe empor und fand dort seine schwerkranke Frau, ihre Pflegerin, zwei seiner Nachbarn und seine Kinder. Er fragte, was die Worte, die ihm der Junge gesagt hatte, und die Verteilung seiner Kinder zu bedeuten hätten.

»Ihr sollt es später erfahren«, entgegnete sie.

Er fragte für jetzt auch nicht weiter, denn er dachte an nichts Arges. Seine Nachbarn verabschiedeten sich, empfahlen die Kranke Gott und versprachen ihr, ihre Bitte zu erfüllen, wofür sie ihnen dankte.

Als der Tod herannahte, bat sie ihren Mann um Verzeihung und erzählte ihm von dem Vergehen, das sie sich während der Ehe mit ihm hatte zuschulden kommen lassen, und daß die und die von ihren Kindern dem einen und die und die dem anderen gehörten, nämlich den obenerwähnten Männern, und daß sie sie nach ihrem Tode zu sich nehmen würden und er mit ihnen nicht beschwert werden sollte.

Er war über diese Neuigkeit sehr erstaunt, gleichwohl verzieh er ihr alles, und dann starb sie. Und er schickte ihre Kinder zu denen, die sie darum gebeten hatte, und sie behielten sie bei sich. Und so ward er seiner Frau und seiner Kinder ledig und empfand den Verlust seiner Frau viel weniger schmerzlich als den seiner Kinder.

 


 


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