Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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71. Novelle
Der gutmütige Hahnrei

Zu Saint Omer passierte unlängst eine recht hübsche Geschichte, die so wahr wie das Evangelium und vielen angesehenen, glaubwürdigen Leuten bekanntgeworden ist. Ich will sie kurz erzählen. Ein Edelmann und damals weitbekannter, angesehener und hochgeborener Ritter aus der Pikardie quartierte sich in einer Gastwirtschaft ein, die ihm durch den Fourier seines Gebieters, des gnädigen Herrn Herzogs von Burgund, angewiesen worden war. Sobald er den Fuß auf die Erde gesetzt hatte, kam, wie es in dieser Gegend üblich ist, die Wirtin vor die Tür, empfing ihn nach ihrer Art sehr freundlich und hieß ihn willkommen. Er, einer der höflichsten Leute, küßte sie anmutig, denn sie war schön, schmuck, wohlgestalt und geschmackvoll gekleidet, und er merkte, ohne daß ein Wort fiel, an dem Kuß und der Begrüßung recht wohl, daß er eine gute Aufnahme finden werde; und sie gefielen einander vom ersten Augenblick aufs beste.

Der Ritter dachte nach, wodurch er der Gunst seiner Wirtin teilhaftig werden könnte, und entdeckte sich einem seiner Diener, der in kurzer Zeit sich derartig der Sache annahm, daß sie sich zusammenfinden konnten. Als der edle Ritter seine Wirtin bereit fand, alle seine Worte anzuhören, war er, wie ihr euch denken könnt, über alle Maßen erfreut und von so großer Sehnsucht und so heißem Wunsch erfüllt, ihr seine Bitten vorzutragen, daß er die Tür des Zimmers, die sein Diener, als er von ihnen ging, halb offengelassen hatte, zu schließen vergaß und, ohne einer andern Sache seine Aufmerksamkeit zu schenken, sofort mit seinem Gesuch anhob. Und die Wirtin, die ihn gern hörte, antwortete ihm ganz nach Wunsch, so daß beider Begehren so wohl übereinstimmte wie nur je ein Konzert, in dem die Instrumente so trefflich abgestimmt sind, wie es bei ihnen, Gott sei Dank, der Fall war.

Nun geschah es - ich weiß nicht durch welchen Zufall -, daß der Wirt des Hauses, der Mann der Wirtin, als er seine Frau suchte, um ihr irgend etwas zu sagen, gerade an dem Zimmer, in dem seine Frau mit dem Ritter die Zimbel spielte, vorüberging und die Klänge vernahm. Daher wandte er sich zu der Stelle, wo diese schöne Vorstellung stattfand, und sah, als er die Tür aufstieß, den Ritter bei seiner Frau, worüber er noch erschrockener als die beiden war. Er wich sofort zurück aus Furcht, er könnte sie in ihrem süßen Werk stören und hindern, und sagte ihnen statt aller Drohungen und Schmähworte: »Bei Gottes Tod, ihr seid doch recht böse Menschen und gebt sehr schlecht acht auf das, was euch angeht. Ihr habt nicht mal so viel Verstand, um hinter euch die Tür zuzuziehen und zu schließen, wenn ihr dergleichen tun wollt. Denkt doch bloß, wie es ausgesehen hätte, wenn ein anderer als ich euch gefunden hätte. Bei Gott, es wäre um euch geschehen und ihr wäret verloren und euer Handel aufgedeckt und sofort in der ganzen Stadt bekannt. Macht's doch zum Teufel das nächste Mal anders!«

Und ohne ein Wort zu sagen, zieht er die Türe zu und geht fort. Und die guten Leute stimmen abermals ihre Sackpfeifen zusammen und setzen das begonnene Konzert fort. Und dann gingen beide ihren Geschäften nach, ohne sich etwas merken zu lassen; und ihr Handel wäre vielleicht niemals ruchbar oder wenigstens nicht so öffentlich bekannt geworden, daß ihr und so viele andere Leute davon gehört hättet, wäre nicht der Mann gewesen, der sich's anmerken ließ, daß man ihn zum Hahnrei gemacht hatte, sobald die Tür geschlossen war.

 


 


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