Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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23. Novelle
Die Anwaltsfrau geht über den Strich

Unlängst lebte in der Stadt Mons im Hennegau ein Anwalt am Gericht von Mons, ziemlich bei Jahren und schon alt, der hatte unter seinen Schreibern einen sehr hübschen, schmucken Burschen, in den sich nach einiger Zeit seine Frau sehr heftig verliebte. Und er schien ihr recht wohl das Geschäft besser als ihr Mann besorgen zu können. Und um auszuprobieren, ob ihre Meinung richtig sei, beschloß sie, sich ihm gegenüber so zu benehmen, daß er, war er nicht dümmer als ein Esel, alsbald merken müsse, was sie von ihm wollte.

Um ihre Absicht auszuführen, näherte sich die kecke, junge, frische und wohlgestaltete Frau geschickt und oft diesem Schreiber, machte sich in seiner Nähe zu schaffen und sprach mit ihm von hunderttausend Dingen, die meist schließlich auf Liebesgeschichten ausliefen. Und bei diesen Reden vergaß sie, Gott weiß, nicht, ihn tüchtig zu necken. Einmal stieß sie ihn, während er schrieb, in die Seite, ein andermal bewarf sie ihn mit Steinchen, die seine Schrift verwischten, so daß er von vorn anfangen mußte. An einem andern Tag kam sie auf diese Neckerei zurück und nahm ihm Papier und Pergament fort, so daß er nicht weiterarbeiten konnte; darüber war er sehr unzufrieden, da er den Zorn seines Herrn fürchtete.

Obwohl die Herrin lange Zeit ihrem Schreiber ihre Zuneigung und Liebe gezeigt hatte, hatten doch Jugend und Furcht ihm die Augen geschlossen, so daß er nichts von all dem Guten, das man ihm tun wollte, bemerkte. Da er aber viel geneckt worden war, erkannte er endlich doch, daß er hoch in ihrer Gunst stand, und nahm sich vor, sie auf die Probe zu stellen.

Nicht lange nach diesem Entschluß war einmal unser Anwalt nicht im Hause, und seine Frau kam zu unserm Schreiber, um ihm, während er schrieb, nach ihrer Gewohnheit allerlei Schabernack zu spielen, doch trieb sie es diesmal noch viel schlimmer und toller als sonst. Sie bewarf ihn mit Steinchen, stieß ihn an, schwatzte unaufhörlich und goß, um ihn noch mehr zu stören und zu verwirren, sein Tintenfaß auf Tisch, Papier, Kleid aus. Und unser Schreiber, der jetzt besser Bescheid als früher wußte, springt auf die Füße, tritt zu seiner Herrin, drängt sie von sich und bittet sie, ihn schreiben zu lassen. Da sie aber angegriffen und bekämpft zu werden wünschte, ließ sie nicht von dem begonnenen Unterfangen ab, sondern trieb es noch viel ärger.

»Ihr wißt nicht, was ich zu tun habe, Madame!« sagte der Schreiber. »Ich muß schnell das Schriftstück vollenden, das ich begonnen habe. Daher bitt ich Euch, laßt mich in Frieden, oder, beim Tode Gottes, ich werde es Euch heimzahlen!«

»Und was werdet Ihr mir denn machen, schöner Herr?« fragte sie. »Ein schiefes Gesicht?«

»Ganz und gar nicht, bei Gott!«

»Und was denn?«

»Was?«

»Ja, was?«

»Weil«, erwiderte er, »Ihr meine Tinte verschüttet und mein Schriftstück und mein Kleid beschmiert habt, würde ich Euch gern Euer Pergament beschmieren wollen, und damit der Mangel an Tinte mich nicht am Weiterschreiben hindere, würde ich mich Eures Schreibzeugs bedienen!«

»Wahrhaftig, Ihr wärt der Rechte dazu!« versetzte sie. »Und Ihr meint wohl, ich hätte große Angst!«

»Ich weiß nicht, ob ich der Rechte bin«, entgegnete der Schreiber, »doch wenn Ihr's weiter so treibt, sollt Ihr schon sehen, wie es wird. Da mache ich einen Strich, und, bei Gott, wenn Ihr ihn nur um Haaresbreite überschreitet, will ich sterben, wenn ich's Euch nicht heimzahle!«

»Ich habe davor wirklich keine Angst«, antwortete sie, »und wenn ich über den Strich gehe, werde ich ja sehen, was Ihr machen werdet!« Und mit diesen Worten überschritt sie ihn, indem sie einen kleinen Sprung über den Strich hinaus tat. Und der gute Schreiber nimmt sie an den Händen, ohne weiter zu fragen, legt sie auf seine Bank, und ihr könnt es mir glauben, er strafte sie tüchtig. Denn, hatte sie ihn besudelt und beschmiert, so tat er's nicht minder, doch auf andere Art, denn sie beschmierte ihn außen und sichtlich, er aber tat's ihr innen und versteckt. Und dabei war ein junger Knabe des Anwalts, ungefähr zwei Jahre alt, zugegen.

Die Frage, ob es nach diesen ersten Waffentaten der Herrin und des Schreibers zu weiteren geheimen Scharmützeln kam, wobei weniger Worte als bei den ersten gewechselt wurden, ist überflüssig. Ich darf euch jedoch nicht verbergen, daß wenige Tage nach diesem Abenteuer der besagte kleine Junge in dem Büro war, wo der Schreiber schrieb, als der Anwalt und Herr des Hauses hineinkam und auf seinen Schreiber zuging, um zu sehen, was er schrieb, oder vielleicht aus einem andern Grund. Und wie er an den Strich kam, den sein Schreiber für seine Frau gemacht hatte und der noch nicht verwischt war, rief ihm sein Junge zu: »Lieber Vater, hütet Euch, über diesen Strich zu gehen, sonst wird unser Schreiber Euch niederstrecken und zausen, wie er's neulich meiner Mutter tat!«

Als der Anwalt seinen Sohn hörte und den Strich sah, wußte er nicht, was er davon halten sollte, denn er dachte daran, daß Narren, Betrunkene und Kinder gewöhnlich die Wahrheit sprechen. Doch ließ er sich zu dieser Stunde nichts anmerken, und noch ist nicht zu meiner Kenntnis gekommen, ob er aus Unwissenheit oder Furcht, durch einen Skandal entehrt zu werden, die Sache auf die lange Bank schob.

 


 


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