Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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87. Novelle
Der Augenarzt

Im lieblichen und fruchtbaren Lande Holland lebte vor noch nicht hundert Jahren ein schmucker Ritter in einem schönen, guten Haus; bei ihm weilte ein schönes, junges Kammermädchen, in das er leidenschaftlich verliebt war, und aus Liebe zu ihm hatte er es bei dem Quartiermeister des Herzogs von Burgund durchzusetzen gewußt, daß dies Haus ihm zur Wohnung überwiesen ward, auf daß er besser seine Zwecke verfolgen und an das ersehnte Ziel, das seine Liebe ihn begehren ließ, gelangen könne.

Als er ungefähr fünf oder sechs Tage in diesem Hause geweilt hatte, begegnete ihm ein großes Mißgeschick, denn eine Krankheit befiel eins seiner Augen so schwer, daß er es, wollte er nicht arge Schmerzen erdulden, nicht offenhalten konnte. Da er in großer Furcht schwebte, es einzubüßen, ließ er, zumal dieser Körperteil die größte Sorge und Achtsamkeit erheischt, den Chirurgen des gnädigen Herrn Herzogs holen, der damals in der Stadt weilte.

Nun müßt ihr wissen, daß der Chirurg ein sehr schmucker Gesell war und sich des größten Rufes im Lande erfreute. Und sobald der Chirurg, den der Ritter zu sich hatte bitten lassen, das Auge sah, gab er seine Meinung dahin ab, daß er es für verloren erklärte, wie die Ärzte gewöhnlich bei Krankheiten zu urteilen pflegen, damit sie, wenn sie sie geheilt haben, sich eines größeren Lobes und Lohnes erfreuen. Der gute Ritter, der ob dieser Kunde recht betrübt war, fragte, ob es kein Heilmittel dafür gebe, und der andere erklärte, es sei sehr schwer, trotzdem wolle er es mit Gottes Hilfe zu heilen unternehmen.

»Wenn Ihr mich heilen und ohne Verlust meines Auges von diesem Übel befreien wollt, werde ich es Euch gut belohnen«, erklärte der Ritter.

Der Handel ward abgeschlossen, der Chirurg unterfing sich, das Auge unter Gottes Beistand zu heilen, und setzte die Stunden fest, in denen er an jedem Tag kommen werde, um nach ihm zu sehen.

Nun müßt ihr hören, daß jedesmal, wenn unser Chirurg den Kranken besuchte, das schöne Kammermädchen ihn begleitete und ihm stets seine Büchse oder Schindel hielt und den armen Patienten, der in der Gegenwart seiner Dame halb seinen Schmerz vergaß, halten half. Wenn vorher der gute Ritter in das Kammermädchen verliebt war, so ward es jetzt der Chirurg, der jedesmal, wenn er seinen Besuch machte, auf das schöne, schmucke Gesicht dieses Kammermädchens seine freundlichen Blicke heftete und ihm endlich erklärte, wie es um ihn stehe; ihm ward freundlich Gehör geschenkt, und man willigte von Anfang an in seine Bitten. Doch wie man die heiße Sehnsucht stillen könnte, wußte man nicht. Endlich aber ward doch nach mancher Mühe durch die Klugheit und den Scharfsinn des Chirurgen folgendes Mittel gefunden: »Ich will«, erklärte er, »dem gnädigen Herrn, meinem Patienten, kundtun, daß sein Auge verloren ist, wenn das andere nicht verbunden wird, denn dadurch, daß er mit ihm sieht, hindert er die Heilung des anderen kranken. Wenn er«, sagte er, »damit einverstanden ist, daß es bedeckt und verbunden wird, können wir in größter Bequemlichkeit unsere Freuden und Vergnügungen genießen, sogar in seinem Zimmer, damit er noch weniger Verdacht schöpft.«

Das Mädchen, das ebenso große Sehnsucht wie der Chirurg hatte, billigte diesen Plan höchlichst, wenn man ihn nur so ausführen könnte.

»Wir wollen es versuchen«, sagte der Chirurg. Er kam wie gewöhnlich, um nach dem kranken Auge zu sehen, und als er es aufgedeckt hatte, tat er sehr erschrocken: »Wie«, rief er, »ich habe es noch niemals so schlecht gesehen! Um das Auge steht es ja jetzt viel schlimmer als vor vierzehn Tagen. Wir müssen dagegen etwas tun, gnädiger Herr.«

»Was denn?« rief der Ritter.

»Wir müssen Euer gutes Auge bedecken und verhüllen, so daß ungefähr eine Stunde, nachdem ich das Pflaster auf das andere aufgelegt habe, kein Licht zu ihm dringt, denn das hindert zweifellos die Heilung. Fragt nur dieses schöne Mädchen, das es jeden Tag gesehen hat, ob es besser geworden ist«, sagte er.

Und das Mädchen erklärte, es sei schlimmer als früher.

»Nun, dann überlasse ich Euch alles«, versetzte der Ritter, »macht mit mir, was Ihr wollt, ich bin bereit, es mir verbinden zu lassen, wenn ich nur geheilt werde.«

Als die beiden Liebenden sahen, daß der Ritter damit einverstanden war, sich das Auge verhüllen zu lassen, waren sie sehr erfreut. Sobald es geschehen und die Augen verbunden waren, tat der Meister Chirurg, als ginge er wie gewöhnlich weg, und versprach, bald wiederzukommen, um nach dem Auge zu sehen. Er ging aber nicht weit, denn er streckte ziemlich in der Nähe seines Patienten seine Dame auf ein Bett und untersuchte mit einem andern Instrument, als er es bei seinem Ritter angewandt hatte, die geheimen Teile des Kammermädchens. Drei-, vier-, fünf-, sechsmal nahm er sich dieses schönen Mädchens an, ohne daß der Ritter es bemerkt hätte, der zwar den Lärm hörte, doch nicht wußte, was er zu bedeuten hatte, bis er beim sechstenmal Verdacht schöpfte; als er bei diesem Mal das Geräusch und den Lärm der Kämpfenden vernahm, riß er Binden und Pflaster vom Auge, schleuderte sie weit fort und bemerkte die beiden Liebenden, die sich so gebärdeten, als wollten sie einander aufessen, so fest hatten sie sich ineinander verbissen.

»Was soll das heißen, Meister Chirurg?« rief er. »Habt Ihr mich etwa deshalb zur Blindheit verurteilt, um mir diesen Ärger zu machen; kann mein Auge etwa nur dadurch geheilt werden? Weshalb macht Ihr Euch so über mich lustig? Beim heiligen Johann, ich dachte mir doch bald, daß Ihr mich weit öfter aus Liebe zu meinem Kammermädchen als um meiner schönen Augen willen besucht habt. Nun schön, schön, ich bin in Eurer Gewalt, Herr, und kann mich noch nicht rächen, doch ein Tag wird kommen, da ich's Euch heimzahlen werde.«

Der Chirurg, der der schmuckste Gesell und trefflichste Mensch war, begann zu lachen, und sie schlossen Frieden, und ich glaube wohl, daß alle beide nach der Heilung des Auges sich über die Zeit einigten, da sie bei dem Kammermädchen an die Arbeit gehen konnten.

 


 


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