Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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90. Novelle
Die geheilte Sterbende

Um die Zahl meiner Novellen, die zu erzählen und zum besten zu geben ich versprochen habe, zu mehren und zu vergrößern, will ich hier eine berichten, die sich erst jüngst zugetragen hat. Im schönen Lande Brabant, wo sich oft bemerkenswerte Abenteuer ereignet haben, lebte ein guter treuer Kaufmann, dessen Frau sehr krank und ob der Schwere ihres Übels ständig an das Bett gefesselt war. Da der Biedermann seine gute Frau so angegriffen und schmerzbeschwert sah, war er aufs äußerste bekümmert, von Herzen betrübt und traurig und schwebte in großer Angst, der Tod könnte sie ihm entreißen. In diesem schmerzensreichen Zustande setzte er sich, ob des bevorstehenden Verlustes geängstigt, zu ihren Füßen nieder, machte ihr Hoffnung auf Heilung, tröstete sie nach besten Kräften und mahnte sie, an das Heil ihrer Seele zu denken. Und nachdem er ein Weilchen mit ihr gesprochen und seine Mahnungen und Beschwörungen beendet hatte, bat er sie um Verzeihung und richtete an sie die Bitte, ihm zu verzeihen, wenn er ihr je etwas Übles getan habe. Unter den Fällen, in denen er sie gekränkt zu haben glaubte, war, wie er sich wohl erinnerte, der, daß er sie manches Mal und sogar sehr oft aufgebracht hatte, weil er nicht allemal, wenn sie es gewünscht, an ihrem Harnisch oder Küraß gearbeitet hatte; er wußte das selbst sehr gut und bat sie dafür demütig um Vergebung und Verzeihung. Und die arme Kranke vergab, sowie sie sprechen konnte, ihm die leichten Vergehen und Fehler. Doch dieses letzte wollte sie ihm nicht verzeihen, ohne die Gründe kennengelernt zu haben, die ihren Mann bewogen hatten, ihren Harnisch nicht zu polieren, zumal er wußte, wie gern sie es hatte und daß sie nach nichts anderem verlangte.

»Wie«, rief er, »wollt Ihr sterben, ohne denen, die Euch Übles getan haben, zu vergeben?«

»Ich will gern verzeihen«, erklärte sie, »doch möchte ich wissen, was Euch dazu bewogen hat, sonst würde ich es niemals verzeihen.«

Der gute Mann erklärte, um ihre Verzeihung zu erlangen, und dachte es gut zu machen: »Liebe Freundin, Ihr wißt, Ihr seid so oft krank und traurig gewesen, wenn auch nie so sehr wie jetzt, und während Eurer Krankheit habe ich niemals gewagt, Euch um einen Waffengang zu bitten, aus Furcht, es könnte dann schlechter mit Euch werden. Ihr dürft versichert sein, wenn ich so tat, tat ich es nur aus Liebe zu Euch!«

»Schweigt, Ihr Lügner, ich war niemals so krank und traurig, daß ich einen Waffengang verweigert hätte. Ihr müßt schon etwas anderes vorbringen, wenn Ihr meine Verzeihung erlangen wollt. Ihr könnt sagen, was Ihr wollt, Ihr schändlicher Feigling, denn etwas anderes seid Ihr nie gewesen! Denkt Ihr etwa, es gebe auf der ganzen Welt eine Arznei, die eine Krankheit bei uns Frauen leichter linderte und vertriebe als der süße, liebesfreudige Umgang mit Männern? Glaubt Ihr denn, ich wäre so traurig und von der Krankheit angegriffen? Mir fehlt weiter nichts als der Umgang mit Euch.«

»Oho«, rief der andere, »dann will ich Euch bald heilen.« Er sprang auf das Bett und besorgte nach besten Kräften das Geschäft, und sobald er zwei Lanzen gebrochen hatte, erhob sie sich und stellte sich auf die Füße. Eine halbe Stunde danach ging sie auf die Straße, und ihre Nachbarinnen, die sie fast tot geglaubt hatten, waren darüber sehr erstaunt, bis sie ihnen sagte, durch welche Mittel sie wieder zum Leben erweckt worden war. Und sie erklärten sofort, es gebe dafür auch nur dies einzige Mittel. So hatte der gute Kaufmann seine Frau zu heilen verstanden, doch machte es ihm später viele Beschwerden, denn oft stellte sie sich krank, um die Arznei zu empfangen.

 


 


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