Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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21. Novelle
Die geheilte Äbtissin

An den Grenzen der Normandie liegt eine gute, große Damenabtei, deren Äbtissin, die schön, jung und wohlgestalt war, sich unlängst krank zu Bett legen mußte. Ihre guten, frommen und mildtätigen Schwestern besuchten sie alsbald, trösteten sie und taten treulich und nach besten Kräften alles, was nach ihrer Meinung für sie gut war. Und als sie merkten, daß sie nicht gesund werden wollte, ward bestimmt, eine von ihnen solle ihren Urin nach Rouen bringen und ihren Krankheitsfall einem Arzt von großem Ruf erzählen. Mit dieser Sendung beauftragt, machte sich am Morgen eine von ihnen auf den Weg und beeilte sich, so daß sie sich bald bei dem Arzt befand. Nachdem er den Urin von Madame, der Äbtissin, untersucht hatte, erzählte sie ihm lang und breit von der Art der Krankheit, vom Schlaf, Stuhlgang, Trinken und Essen der Äbtissin.

Der kluge, vom Leiden Madames ebenso durch ihren Urin wie durch den Bericht der Nonne gut unterrichtete Arzt wollte das Rezept geben. Und obwohl er den meisten Leuten ein schriftliches Rezept zu geben pflegte, vertraute er gleichwohl in diesem Fall der Nonne so, daß er ihr mündlich mitteilen wollte, was zu tun sei, und erklärte ihr: »Liebe Schwester, will Madame, die Abtissin, ihre Gesundheit wiedergewinnen, so muß sie sich unbedingt und notwendig mit einem Mann zu schaffen machen. Sonst wird sie sich in kurzer Zeit so schlecht und übel befinden, daß der Tod für sie die letzte Rettung sein wird!«

Wer sehr ob dieser herben Kunde erschrak, war unsere Nonne, die sagte: »Ach, Meister Johann, gibt's keine andere Möglichkeit für Madame, die Gesundheit wiederzuerlangen?«

»Gewiß nicht«, versetzte er, »es gibt keine andere, daher müßt Ihr, so heiße ich Euch, nach meinen Worten schleunig handeln, denn nimmt die Krankheit aus Mangel an Hilfe ihren Lauf und wird sie heftiger, so kann kein Mensch etwas dagegen tun!«

Die gute Nonne vermochte kaum mehr gemächlich Mittag zu essen, so eilig hatte sie es, Madame diese Nachricht zu bringen. Und mit Hilfe ihres guten Zelters und infolge des lebhaften Wunsches, recht bald zu Haus zu sein, machte sie so schnell, daß Madame, die Äbtissin, ganz erstaunt war, sie so bald wiederzusehen.

»Was sagt der Arzt, liebe Schwester?« fragte die Äbtissin, »bin ich in Todesgefahr?«

»Ihr sollt bald wieder wohlauf sein, wenn es Gott gefällt, Madame«, versetzt die Botin, »seid fröhlich und faßt Euch ein Herz!«

»Hat der Arzt mir keine Arznei verordnet?« entgegnet Madame.

»Wohl hat er«, antwortet sie. Darauf erzählt sie ihr lang und breit, daß der Arzt ihren Urin untersucht, nach ihrem Alter, Appetit, Schlaf und so weiter gefragt habe. »Und zum Schluß hat er erklärt und befohlen, Ihr müßt unter allen Umständen fleischlichen Verkehr mit einem Mann haben, oder Ihr sterbt sonst bald, denn für Eure Krankheit gibt's kein andres Mittel!«

»Fleischlichen Verkehr mit einem Mann!« ruft Madame. »Lieber wollte ich tausendmal sterben, wenn ich könnte!« Und dann sagte sie: »Da mein Übel also, wenn ich dies Mittel nicht anwende, unheilbar und tödlich ist, Gott sei gelobt, so wähle ich gern den Tod. Ruft gleich alle meine Klosterschwestern zusammen!«

Die Glocke ward gezogen, und zu Madame kamen alle ihre guten Nonnen. Und als sie im Zimmer waren, begann Madame, die trotz ihrer Krankheit noch ganz ihre Kommandostimme hatte, ihren Schwestern eine große lange Ansprache zu halten, tat dar, was sie getan und wie es um ihr Kloster stehe, wie sie es vorgefunden habe und in welchem Zustand es sich heute befinde, und kam dann auf ihre Krankheit, die, wie sie wohl fühle und wisse, tödlich unheilbar und auch nach dem Urteil des Arztes tödlich sei: »Und deshalb, liebe Schwestern, empfehle ich euch unser Kloster und euren frommen Gebeten meine arme Seele!« Und bei diesen Worten sprangen ihr in großer Menge Tränen aus den Augen, die bald von zahllosen andern, die den Herzen ihrer guten Klosterschwestern entquollen, begleitet wurden. Dies Weinen dauerte ziemlich lange, und eine geraume Weile verging, ohne daß gesprochen ward.

Nach einer gewissen Zeit nahm Madame, die kluge und gute Priorin, für das ganze Kloster das Wort und sagte: »Madame, wie es mit Eurem Übel steht, weiß Gott allein, dem man nichts verbergen kann; uns betrübt es sehr, und jede von uns würde nach Kräften und, soweit es einem Menschen überhaupt möglich ist, alles tun, damit Ihr die Gesundheit wiedergewännet. Daher bitten wir Euch insgesamt, verfügt über uns und die Güter Eures Klosters in jeder Beziehung, denn weit lieber wäre es uns und von größerem Nutzen, den größten Teil unserer zeitlichen Güter zu verlieren als den geistlichen Vorteil, den Eure Gegenwart uns gibt!«

»Meine gute Schwester«, versetzte Madame, »ich halte mich Eures freundlichen Anerbietens nicht für wert, doch danke ich Euch dafür von ganzem Herzen; ich gebe Euch aber zu bedenken und bitte Euch nochmals, nach meinen Worten an die Angelegenheiten unseres Klosters, die mir, Gott weiß, sehr am Herzen liegen, zu denken, und betet für meine Seele, die dessen sehr bedarf!«

»Ach, Madame«, entgegnete die Priorin, »ist denn nicht durch gute Pflege oder fleißigen Gebrauch von Arznei Eure Heilung möglich?«

»Nein, gewiß nicht, meine gute Schwester«, antwortete sie, »ich muß mich zu den Toten zählen, denn ich vermag nicht mehr zu Kräften zu kommen, wenn ich auch noch zu sprechen imstande bin.«

Nun trat die Nonne, die ihren Urin nach Rouen gebracht hatte, vor und sagte: »Madame, wohl gibt es ein Mittel, wenn's Euch gefiele!«

»Glaubt nicht, daß es mir zusagt!« erklärte sie. »Da kommt Schwester Johanna von Rouen, hat meinen Urin einem Arzt gezeigt und ihm von meiner Krankheit erzählt, und er hat gesagt, ich müßte sterben, wenn ich mich nicht einem Mann hingeben und mit ihm fleischlich verkehren wollte. Und darauf beruhe meine Heilung, so fand er's in seinen Büchern, und dann brauchte ich nicht zu sterben; doch täte ich es nicht, so gäbe es keine Rettung für mich. Und ich lobe Gott, der mich heimzurufen geruht, obwohl ich viele Sünden begangen habe; ich gebe mich ihm anheim und biete dem Tode, komme er, wann er wolle, meinen Leib dar!«

»Wie, Madame!« rief die Schließerin, »Ihr wollt an Euch selbst zur Mörderin werden? Bei Euch steht Eure Rettung, Ihr braucht nur die Hand nach der Hilfe auszustrecken, und sie ist da. Das ist nicht wohlgetan, und ich muß sagen, Eure Seele wird sicher nicht von Euch scheiden, wenn Ihr in diesem Zustande sterbt!«

»Ach, meine liebe Schwester!« entgegnete Madame, »Wie oft habe ich predigen gehört, daß es besser für einen Menschen sei, zu sterben, als eine einzige Todsünde zu begehen. Und Ihr wißt, ich kann dem Tode nicht entgehen und ihn fernhalten, ohne eine Todsünde zu begehen. Und wenn ich das täte und so mein Leben verlängerte, wäre ich nicht für immer entehrt und dem Spott preisgegeben, würde man nicht sagen: Seht da die Dame, und so weiter? Selbst ihr alle würdet mir dann doch, obschon ihr mir diesen Rat gabt, mit weniger Achtung und Liebe begegnen. Und ihr würdet mich, und mit gutem Grunde, für unwürdig halten, an eurer Spitze zu stehen und euch zu leiten!«

»Sprecht und denkt das ja nicht!« sagte Madame, die Schatzmeisterin, »man muß alles tun, um dem Tod zu entgehen. Und sagt nicht unser guter Vater, der heilige Augustin, daß sich kein Mensch das Leben nehmen, nicht einmal eines seiner Glieder sich berauben darf? Und würdet Ihr nicht geradezu seinem Spruch zuwiderhandeln, wenn Ihr mit Absicht das, was Ihr wohl bewahren könnt, aufgäbet?«

»Sie hat recht!« erklärten einstimmig alle Schwestern. »Madame, gehorcht um Gottes willen dem Arzt, und besteht nicht so hartnäckig auf Eurer Meinung, daß Ihr Leib und Seele verliert, und laßt Euer armes Kloster, das Euch so liebt, nicht trostlos und verwaist zurück!«

»Meine guten Schwestern«, versetzte Madame, »ich möchte weit lieber dem Tod die Hände hinstrecken, meinen Hals hinhalten und ihn ehrbar umfassen, als ihn fliehen und entehrt leben. Und würde man nicht sagen: Seht da die Dame, die so und so tat?«

»Es kann Euch ganz gleich sein, was man sagt, Madame; von verständigen Leuten werdet ihr schon nicht getadelt werden!«

»Wäre es nur so, wäre es nur so!« erwiderte Madame.

Die Klosterschwestern gerieten in lebhafte Aufregung und hielten eine Versammlung ab, in der sie zu folgendem Beschluß kamen; die Priorin nahm für alle das Wort: »Madame, Euer Kloster ist so betrübt und bekümmert, wie wohl nie ein anderes Haus es war, und Ihr tragt daran die Schuld. Daß Ihr übel beraten seid, wenn Ihr sterben wollt, wo es doch in Eurer Macht liegt, dem Tod zu entgehen, davon bin ich ganz fest überzeugt. Und damit Ihr vernehmt, wie treu und herzlich wir Euch lieben, sind wir darin übereingekommen und haben allesamt einmütig erwogen und beschlossen, um Euch und uns zu retten, heimlich mit anständigen Männern Verkehr zu pflegen. Wir wollen es ebenfalls tun, damit Ihr nicht auf den Gedanken und Einfall kommt, eine von uns könnte Euch künftighin schelten und tadeln. Nicht wahr, liebe Schwestern?«

»Ja«, erwiderten sie alle von ganzem Herzen.

Als Madame, die Äbtissin, diese Worte hörte, ließ sie sich, zumal ihr auf dem Herzen eine schwere Last Leids lag, bestimmen und bewegen, wenn auch mit großem Widerwillen, dem Rat des Arztes zu folgen, sofern ihre Klosterschwestern desgleichen täten. Also ließ man Mönche, Priester und Geistliche kommen, die Arbeit in Fülle fanden. Und so trefflich entledigten sie sich ihrer Aufgabe, daß Madame, die Äbtissin, in kurzer Zeit gesundete, worüber ihr Kloster, das aus Gutherzigkeit tat, was es später wegen des Vergnügens nicht mehr ließ, sehr erfreut war.

 


 


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