Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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89. Novelle
Der unwissende Pfarrer

In einem kleinen Weiler oder Dorf in dieser Welt, ziemlich fern von der guten Stadt, hat sich eine kleine Geschichte zugetragen, die ihr, meine guten Herren, euch wohl anhören könnt. Dieses Dorf oder dieser Weiler - es ist mir ganz gleich - war von einem Häuflein guter, ungeschliffener, einfältiger Bauern bewohnt, die keine Ahnung hatten, wie sie leben sollten. Und waren sie schon recht ungeschliffen und unwissend, so war ihr Pfarrer nicht um eine Unze besser; denn er selbst hatte keine Ahnung von dem, was ihnen allen not tat, wie ich es euch an einem Beispiel dartun werde, das von ihm zu berichten ist.

Ihr müßt wissen, daß dieser geistliche Herr, wie gesagt, so einfältig und unwissend war, daß er die heiligen Feste, die jedes Jahr wiederkehren und meist auf einen bestimmten Tag fallen, wie jedermann weiß, nicht anzuzeigen wußte. Wenn seine Gemeindekinder fragten, wann das Fest sei, wußte er es ihnen nie zu sagen. Unter den andern Böcken, die er oft schoß, war einer und nicht der kleinste der, daß er fünf Fastenwochen verstreichen ließ, ohne seiner Gemeinde die Fasten anzukündigen.

Nun hört, wie er merkte, was er versäumt hatte. Am Sonnabend vor der Nacht zu den weißen Ostern, die man auch Palmsonntag nennt, bekam er Lust, nach der guten Stadt zu ziehen, um dort einige Besorgungen zu machen. Als er die gute Stadt betrat und durch die Straßen ritt, bemerkte er, daß die Priester Palmen und andere Zweige herrichteten, und sah, daß sie auf dem Markt auch für die Prozession des nächsten Tages verkauft wurden. Wer darüber sehr staunte, das war der Herr Pfarrer, doch ließ er sich nichts anmerken. Er kam zu den Frauen, welche die Palmzweige verkauften, tat, als wäre er wegen ganz anderer Dinge in die gute Stadt gekommen, erstand ebenfalls welche, stieg dann hastig mit seinen Einkäufen aufs Pferd und trabte, so schnell er konnte, davon, um bald heimzukommen. Ehe er noch von seinem Pferd gestiegen war, begegnete er einigen Leuten aus seiner Gemeinde, denen er auftrug, die Glocken zu läuten, und alle sollten sofort zur Kirche kommen, wo er ihnen von einigen für ihr Seelenheil nötigen Dingen sprechen wollte.

Die Versammlung war bald einberufen, und alle Leute fanden sich in der Kirche ein, wo der Herr Pfarrer gestiefelt und gespornt, Gott weiß wie geschäftig, hinkam, vor den Altar trat und folgendermaßen sprach: »Liebe Leute, ich tue euch kund und zu wissen, daß heute der Vorabend des heiligen Festes von Palmsonntag und heute in acht Tagen der Vorabend des großen Osterfestes ist, das man auch Kommunikantenostern nennt.«

Als die guten Leute diese Neuigkeit hörten, begannen sie zu murmeln und waren sehr erstaunt, wie das nur sein konnte.

»Ho«, sagte der Priester, »ich will euch gleich beruhigen und euch den wahren Grund dafür sagen, warum ihr nur acht Fasttage in diesem Jahre für eure Buße habt. Und ihr werdet euch auch nicht darüber wundern, wenn ich euch sage, warum die Fasten so spät gekommen sind. Ich glaube, jeder von euch weiß wohl und erinnert sich, daß wir in diesem Jahr weit mehr als sonst eine lange und kräftige Kälte gehabt haben. Und es ist auch schon lange her, daß das Reiten so gefährlich gewesen ist wie diesen ganzen Winter, weil wir nämlich so lange Glatteis und Schnee hatten. Jeder von euch weiß, daß dies wahr wie das Evangelium ist, deshalb dürft ihr euch nicht wundern, daß die Fasten so lange ausgeblieben sind; es wäre höchstens wunderbar, daß sie, zumal der Weg bis zu ihrem Haus so weit ist, überhaupt noch haben kommen können. Daher bitte ich euch, ihr wollet sie entschuldigen, und sie selbst lassen euch ebenfalls darum bitten - ich habe nämlich heute mit ihnen zu Mittag gegessen.« Und er nannte ihnen den Ort, das heißt die Stadt, in der er gewesen war. »Deshalb«, sagte er, »richtet euch so ein, daß ihr diese Woche zur Beichte kommt und morgen, wie es hier Sitte ist, bei der Prozession erscheint. Gebt euch diesmal zufrieden, das nächste Jahr, so Gott will, wird freundlicher sein, und dann werden sie zur gewöhnlichen Zeit erscheinen.«

Auf diese Weise entschuldigte der Herr Pfarrer seine Einfalt und Unwissenheit, sprach den Segen und sagte am Schluß seiner Predigt: »Bittet Gott für mich, und ich will ihn für euch bitten.« Und er ging heim, um seine Zweige und Palmen für die Prozession am nächsten Tage herzurichten.

 


 


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