Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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50. Novelle
Der ungerechte Vorwurf

Wie junge Leute oft sich auf Reisen begeben und den Wunsch haben, in der Welt sich umzusehen und Abenteuer zu suchen, so lebte vor kurzem im Lande Laon der Sohn eines Bauern, der vom zehnten bis zum sechsundzwanzigsten Jahre ständig außer Landes war. Und von seinem Fortgang bis zu seiner Heimkehr erhielten weder Vater noch Mutter eine einzige Nachricht von ihm. Oft dachten sie schon, er wäre tot.

Später kam er aber doch nach Haus, und Gott weiß, welche große Freude daheim herrschte und wie er bei seiner Rückkehr festlich von ihnen, so gut sie es nach den ihnen von Gott verliehenen Gaben vermochten, aufgenommen ward. Wer ihn gern sah und herzlich bewillkommnete, das war seine Großmutter, die Mutter seines Vaters, die ihm die größten Liebkosungen zuteil werden ließ und sich am meisten über seine Heimkehr freute. Sie küßte ihn mehr als fünfzigmal und hörte nicht auf, Gott zu loben, der ihnen ihren hübschen Sohn in so gutem Stande wiedergegeben hatte.

Nach dem freudigen Willkomm kam die Schlafensstunde. Es gab aber im Haus nur zwei Betten, eins für Vater und Mutter und das andere für die Großmutter. Daher ward beschlossen, ihr Sohn sollte bei seiner Großmutter schlafen, worüber sie sich freute. Auch er war das wohl zufrieden und willigte gehorsam ein, diese Nacht sich so durchzuhelfen. Als er bei seiner Großmutter lag, kam ihn ich weiß nicht was an, und er bestieg sie.

»Was willst du machen?« rief sie.

»Laßt's Euch nicht kümmern«, entgegnete er, »und sagt kein Wort!«

Als sie bemerkte, daß er die ernste Absicht hatte, sein Gelüst zu vollbringen, begann sie aus Leibeskräften nach ihrem Sohn zu schreien, der im Zimmer nebenan schlief; der erhob sich von seinem Bett, ging zu ihr, und sie beklagte sich unter heißen Tränen über seinen Sohn. Als er die Klage seiner Mutter hörte und von der Unmenschlichkeit seines Sohnes vernahm, geriet er in große Erregung und Wut und erklärte, er werde ihn töten. Als der Sohn diese Drohung hört, springt er auf, macht sich davon und rettet sich. Sein Vater verfolgt ihn, doch umsonst. Er war nicht so leicht zu Fuß wie er. Er sah, daß seine Mühe vergeblich war, kam nach Haus zurück und fand seine Mutter voller Jammer über die ihr von seinem Sohn geschehene Kränkung.

»Beruhigt Euch, liebe Mutter, ich will Euch schon Genugtuung verschaffen.«

Ich weiß nicht nach wieviel Tagen, da fand der Vater seinen Sohn in der Stadt Laon beim Ballspiel, und sobald er ihn erblickte, zog er vom Leder, stürzte auf ihn zu und wollte ihn niederhauen. Der Sohn entging dem durch eine glückliche Wendung, und der Vater ward festgehalten. Einige Leute dort wußten darum, daß es Vater und Sohn waren, und einer sagte zum Sohn: »Sage doch, was hast du denn deinem Vater Böses getan, daß er dich töten will?«

»Gar nichts«, entgegnete er, »Ihr dürft mir's glauben. Er tut mir das größte Unrecht an, er will mir an den Hals für das einzige bißchen Mal, daß ich seine Mutter habe vornehmen wollen. Er hat meine mehr als fünfhundertmal vorgenommen und ich habe ihm niemals ein Sterbenswörtchen darüber gesagt.«

Alle, die diese Antwort hörten, lachten von ganzem Herzen darüber und erklärten, er sei ein Biedermann. Sie bemühten sich nun, ihn mit seinem Vater wieder zu versöhnen, und es gelang ihnen schließlich auch, und einer vergab und verzieh dem andern.

 


 


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