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Geschlossen sind die schweren Portieren,
Um der Tagessonne den Eingang zu wehren,
Doch durch den purpurnen Vorhang bricht
In dämmrigen Strömen das rote Licht.
La demi-vierge auf dem Sofa liegt,
Den Lockenkopf in die Kissen geschmiegt.
Wie lüstern die grauen Augen schaun
Unter den üppigen Augenbraun.
Auf dem niedrigen Taburett vor ihr
Sitzt lässig bequem ein Kavalier,
Und mit vibrierend klangvollem Tone
Liest er: Boccaccio, Decamerone.
Aus den vergilbten Blättern hervor
Steigt ein phantastischer, toller Chor
Verliebter Männer und listiger Fraun,
Die gar unheimlich lebendig schaun.
Und aus der längst gestorbnen Zeit
Weht ein glühender Hauch von Zärtlichkeit
Durch des kleinen Zimmers schweigenden Raum
Wie ein verhauchender Wollusttraum.
La demi-vierge, in des Bannes Haft,
Reckt sich und streckt sich so katzenhaft,
Und lächelnd die weißen Zähne sie zeigt.
Das Buch fällt zur Erde: – die Stimme schweigt!
Morgen früh. Auf Spitzzehen, mein Schatzerl,
Schleich ich zu dir, zu dir wie ein Dieb.
Sagst ja immer, ich bin ein Katzerl,
Drum komm ich so sachte. Gelt, mein Lieb?
In deinen warmen Federdecken,
Die wie ein ganzes Gebirge sind,
Mußt du mich jetzt so gründlich verstecken,
Daß mich keine Menschenseele mehr findt.
– – – – – – – – – –
Regen klopft an die Fensterscheiben.
Doch an die Tür?! – Wer klopft denn da?!
Um Himmels willen, wo soll ich bleiben?
Hörst du, Schatz? Deine Schwiegermama!
Stört unser heimliches, heimliches Kosen,
Und in ganz gefährlicher Näh
Hört man immer lauter sie tosen:
»Kurt, ich bringe dir Fliedertee!«
Und ich
mußte entsetzt echappieren.
Leider war schleuniger Rückzug geboten.
Und du mußtest Erwachen markieren.
Und du gähntest wahrhaftig nach Noten.
Aber darüber so traurig zu werden?
Tröste dich doch, mein Liebster! Du weißt,
Daß das Motto für alles Schöne auf Erden:
»Ach, nur ein Viertelstündchen!« heißt.
Sie nahm einen blauen Bogen
Und schrieb: »Mein Ideal,
Seitdem du fortgezogen,
Sterb ich vor Liebesqual.
Dir weih ich meine Lieder,
Dir
mes premières amours,
Und kehrst du niemals wieder,
Ich bleib dir treu!
Toujours!« –
Sie nahm einen rosa Bogen
Und schrieb: »Mein lieber Graf!
Ich war so ungezogen,
Als ich Sie neulich traf.
Ich ging mit Ihrem Vetter,
Doch wars nicht bös gemeint;
Sie sind ja soviel netter!
Und ich bin treu, mein Freund!«
Sie nahm einen weißen Bogen:
»Mein Prinzchen! Lieber Schatz!
Ich hab dich sehr verzogen,
Du blonder Fähnrichsfratz!
Daß Leutnant du geworden,
Das freut mich riesig! Ja!
Und hast du erst nen Orden,
Dann sprichst du mit Mama.
Du brauchst nicht so zu klagen,
Ich wart auf dich fürwahr;
Du brauchst nicht zu verzagen,
Treu bleib ich immerdar!« –
Sie nahm einen lila Bogen:
»Mein vielgeliebter Hans,
Dir bin ich sehr gewogen,
Und dir gehör ich ganz!
Nicht wägen, sondern wagen!
Darum bin ich so frei,
Dir grad heraus zu sagen:
Dir bleib ich ewig treu!« –
Nachdem sie überflogen
Das Blatt, erhob sie sich,
Besah sich all die Bogen –
Und gähnte fürchterlich!