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Otto Reutter (geb. 1870)

Immer weiter

Ach, was sind wir dumme Leute –
Wir genießen nie das Heute.
Unser ganzes Menschenleben
Ist ein Hasten, ist ein Streben,
Ist ein Bangen, ist ein Sorgen –
Heute denkt man schon an morgen,
Morgen an die spätre Zeit –
Und kein Mensch genießt das Heut.
Auf des Lebens Stufenleiter
Eilt man weiter, immer weiter –

Ja, wir leben zu geschwind heut –
Gar zu schnell entflieht die Kindheit –
Schon der Knabe in der Schule
Sitzt nervös auf seinem Stuhle –
Von der Fibel wird ihm übel –
Nur mit Sträuben lernt er schreiben
Und am liebsten möcht er raus
Aus dem schönen Elternhaus,
Denn er glaubt, es sei gescheiter:
Immer weiter, immer weiter –

Kommt er später in die Lehre,
Denkt die halberwachsne Jöhre:
Wenn ich nur erst größer wäre,
Als Soldat beim Militäre.
Aber ist er dann Rekrute,
Ei – wie wird ihm da zumute –
Ja, dann singt er andre Lieder:
Nach der Heimat möcht ich wieder!
Wär ich nur mal erst Gefreiter
Und dann weiter, immer weiter –

Ist vom Militär er eben,
Denkt er schon ans Eheleben.
Ja, in einem Tanzlokale
Sieht er sie zum ersten Male –
Und am Abend bringt ers Liebchen
Schon nach Haus bis vor ihr Stübchen.
Hold errötend sagt die Maid:
»Junger Mann, Sie gehn zu weit!«
Doch trotzdem geht der Begleiter
Immer weiter, immer weiter –

Er, noch ganz erhitzt vom Tanze,
Sagt zu ihr: »Ich geh aufs Ganze!«
Immer näher kommt zur Maid er –
Sie rückt weiter, immer weiter.
»Komm,« sagt er, »s ist nicht gefährlich,
Wirst mein Weibchen brav und ehrlich,
In sechs Wochen bist du mein« –
Und er küßt das Mägdelein.
Und nun sagt sie froh und heiter:
»Küsse weiter, immer weiter« –

Ja, nun zählt er die Sekunden,
Bis man ihn mit ihr verbunden.
Ist das nicht ein toller Einfall?
s hat doch Zeit mit solchem Reinfall!
Er nimmt die geknickte Lilie,
Bald vermehrt sich die Familie,
Und nach kurzem hat er schon
Auf dem Schoß den ersten Sohn.
Erst kommt einer – dann ein zweiter –
Und so weiter, immer weiter – – –

Nun beginnt erst recht das Plagen,
Oft hört man die Eltern sagen:
»Wenn wir nur die Sorgen los sind,
Wenn die Kinder nur erst groß sind -
Dann strahlt uns der Himmel heiter.«
Und sie schaffen immer weiter,
Lassen blind beim Vorwärtsgehn
Ihres Lebens Rosen stehn,
Suchen Tausendguldenkräuter
Immer weiter, immer weiter – – –

So entflieht die Zeit wie n Traum
Und die Eltern merkens kaum – –
Erst verheiratn sie ihr Mariechen,
Dann verlobn sie ihr Sophiechen,
Dann kommt Walter zur Marine,
Dann lernt Englisch die Pauline –
Dann macht Wilhelm sein Examen –
Dann kommn noch zwei junge Damen –
Eine sechzehn – eine vierzehn –
Das kostt Kleider, Hüte, Schürzen,
Um die richtig auszustatten
Für den künftgen Herrn und Gatten.
Niemals weiß man, wie man dran ist,
Nie gibts Ruhe – nie gibts Frieden –
Wenn die eine an den Mann ist,
Ist die andre schon geschieden.
Wenn die Jüngste noch zu haben,
Hat die Ältste schon nen Knaben,
Erst kommt einer – dann ein zweiter
Und so weiter, immer weiter – – –

Sehn Sie, so entfliehn die Jahre.
Großpapa hat weiße Haare –
Und der Mondschein zieht sich breiter,
Immer weiter, immer weiter –
Und er seufzt: »Wie schön der Mai ist,
Sieht man erst, wenn er vorbei ist.
Ach, wir waren blind,« so klagt er,
Und zu seinem Enkel sagt er:
»Nutz den Frühling deines Lebens,
Leb im Sommer nicht vergebens,
Denn gar bald stehst du im Herbste,
Bis der Winter naht, dann sterbste –
Und die Welt geht trotzdem heiter
Immer weiter« – – –


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